Die Klingen der Rose: Jenseits des Horizonts (German Edition)
Gabriel seine kräftigen Finger mit ihren verschränkte – die Quelle gab ihr Geheimnis preis.
14
IN DEN WOLKEN
Gabriel hatte instinktiv Thalias Hand ergriffen. Als die Welt auseinanderfiel und sich zu etwas Neuem formte, fühlte nur sie sich echt an. Er musste sie berühren, wollte sie dicht bei sich haben und sie beschützen, während warmer Wasserdampf in dem Zelt eine dichte Wolke bildete. Gabriel hatte keine Ahnung, was es mit dieser Wolke auf sich hatte, ob sie Gutes oder Schlechtes bewirkte.
Angespannt beobachtete er, wie in dem Nebel Gestalten auftauchten. Seine andere Hand schwebte über der Pistole. Nur für alle Fälle. Womöglich ließ sich eine magische Dampfgestalt nicht von einer Kugel aufhalten, aber vielleicht doch, und so war er auf alles vorbereitet.
Die Gestalten entpuppten sich jedoch nicht als Tiere oder irgendetwas Böses, sondern als Menschen. Genau wie die Welt um sie herum gewannen sie an Schärfe, bis es aussah, als würde man einem über dem Boden schwebenden Theaterstück beiwohnen. Die Menge, die das Schauspiel verfolgte, schrie auf, und Gabriel unterdrückte einen Fluch. Die Gestalten in den Wolken waren die Stammesmitglieder selbst. Gabriel erkannte einige Gesichter, einschließlich das des Anführers und seiner Frau. Und, großer Gideon, dort war auch Gabriel selbst zu sehen, wie er mit Thalia an dem Nadaam teilnahm und mit Bolds Familie aß. Es war seltsam zu beobachten, wie er in der Wolke Gestalt annahm.
Alltag im Stamm. Alle gingen ihren Aufgaben nach, kümmerten sich um die Tiere und kochten. Oyuun schnappte neben ihnen nach Luft, als sie sich dabei zusah, wie sie den Teekessel füllte. Doch irgendetwas an diesen simplen Tätigkeiten schien seltsam, denn …
»Alles läuft rückwärts«, murmelte Thalia neben ihm.
»Als würde man das Lebensrad zurückdrehen«, bestätigte Gabriel.
Diesem Muster entsprechend verlief der gesamte Alltag des Stammes in umgekehrter Richtung. Die Sonne wanderte von Sonnenuntergang zu Sonnenaufgang, von Westen nach Osten. Noch seltsamer wirkte es, dass Fohlen wieder in ihren Stuten verschwanden, hohe Gräser zu Samen in der Erde schrumpften und sich Tau in Schnee verwandelte. Und immer wieder kehrte das Schattenspiel zu dem Kessel zurück, mit dem Oyuun und dann viele andere Frauen – Alte, die stetig jünger wurden – Wasser kochten, während ihre Familien durch die Steppe zogen. Stets umgab sie ein Teppich aus roten Blumen, egal wo sie ihr Lager aufschlugen.
»Meine Großmutter«, schrie Bold, als eine der Wolkenfrauen Tee brühte. Sie verschwand, und andere Frauen traten an ihre Stelle. Ganze Generationen, Hunderte von Jahren, zogen in einem Augenblick an ihnen vorüber. Mit der Zeit wirkte der Kessel etwas weniger verbeult. Neben dem unendlichen Rhythmus des Lebens, auch wenn er rückwärts lief, fühlte sich Gabriel demütig und klein. Ihm wurde bewusst, wie kurz seine eigene Zeit auf der Erde war. Er umfasste Thalias Hand fester.
Dann trat eine Veränderung ein. Der Kessel wurde aus dem Stamm getragen und im Gepäck eines Reiters verstaut. Der Ausrüstung nach zu urteilen handelte es sich um einen Soldaten. Er trug jedoch keine Schusswaffen bei sich, nur Schwert und Bogen. Es schien vor sehr langer Zeit geschehen zu sein, möglicherweise vor mehr als fünfhundert Jahren. Der Reiter raste durch die Steppen, durch einen Landstrich, der Gabriel vertraut erschien. Er begriff schnell, warum. In einem wohlbekannten Tal tauchte eine pulsierende Stadt auf.
»Karakorum«, keuchte Thalia.
»Und voller Leben.«
Hier war das Zentrum des blühenden mongolischen Reiches. Steinschildkröten stützten die Säulen der Stadtmauer. Kaufleute mit Handkarren, Gelehrte, Boten, Händler und fromme Menschen aus der ganzen Welt strömten nach Karakorum. Der Reichtum blendete Gabriel. Selbst die goldenen Paläste in Indien konnten mit diesen Mengen an Gold, Juwelen und Seide, die sich wie ein Fluss über die Stadt ergossen, nicht mithalten. Und in dieser ganzen Opulenz fand sich der bescheidene Kessel, den der Soldat in eines der riesigen Lagerhäuser mit erbeuteten Schätzen trug.
Doch in dem Lagerhaus blieb er nicht lange. Zusammen mit Wandteppichen, glänzenden Jadestücken und eingerollten Gemälden wurde der Kessel auf einen Karren gepackt und von einer riesigen Armee mitgenommen, die sich rückwärts nach Südosten bewegte. Selbst ein alter Soldat wie Gabriel pfiff anerkennend ob der Größe dieser Armee. Unendliche Reihen berittener Krieger
Weitere Kostenlose Bücher