Die Klinik
daß dem Lokaltratsch zufolge ihr Verhältnis zum Sohn des Hauses in ihren jüngeren Tagen weit mehr war als das einer Sklavin, und sicher in dem Wissen um den Brauch, daß der alte weiße Mann dem Kind in Anerkennung seines Familiennamens auf alle Fälle das Geschenk geben mußte.
Calvin wuchs als ländlicher Neger auf. Solange er in Georgia war, fehlte nie der Nachdruck auf seinem mittleren Namen – Calvin Justin Priest –, und vielleicht führte dieses Bindeglied mit einem privilegierten Hintergrund und Omen stolzer zukünftiger Dinge dazu, daß ihm eine erweiterte Schulbildung zugestanden wurde. Er war ein frommer Junge, der das Theatralische der Gebetsversammlung genoß, und er dachte lange daran, Priester zu werden. Es war eine glückliche Kindheit, obwohl seine Eltern von der Influenzaepidemie hinweggerafft wurde, die 1919 verspätet, aber ebenso tödlich aus den Städten aufs Land hinaussickerte. Drei Jahre später wußte Sarah, daß Gott ihr zwar ein reiches und langes Leben gegönnt hatte, es sich jedoch seinem Ende näherte. Sie diktierte dem jungen Calvin einen Brief, den er sorgfältig in Schriftsprache übersetzte und nach Chicago sandte, dem Ort der tausend Möglichkeiten und der Freiheit. In dem Brief bot Sarah ehemaligen Nachbarn namens Haskins ihr Begräbnisgeld, 170 Dollar, an, wenn sie Calvin in ihr Heim und an ihr Herz nehmen würden. Sarah war überzeugt, daß sich Osborne Justin um ihr Begräbnis kümmern würde; es war die letzte Chance, ihm auf seine Kosten eins auszuwischen.
Die Antwort kam in Form einer Penny-Postkarte, auf die jemand mit Bleistift gekritzelt hatte:
Schikk den Jungen.
Als er nach Georgia zurückkehrte, war aus ihm ein Mann geworden.
Es stellte sich heraus, daß Moses Haskins ein gemeines Scheusal war. Er verdrosch Calvin und seine eigene Brut regelmäßig und unparteiisch, und Calvin lief davon, noch bevor er ein Jahr in der Haskins-Familie gelebt hatte. Er trug den Chicago American aus, arbeitete als Schuhputzer, gab sich für älter aus und arbeitete als Packer in einem Schlachthof. Die Arbeit war bitter hart – wer hätte gedacht, daß tote Tiere so schwer sind? –, und anfangs glaubte er nicht, daß er durchhalten würde, aber sein Körper wurde zäher, und die Bezahlung war gut. Als sich zwei Jahre später die Gelegenheit ergab, bei einem Wanderzirkus für weniger Geld Handlanger zu werden, ergriff er sie begierig. Er reiste mit dem Zirkus durch das weite Land, nahm es in sich auf, all seine Herrlichkeiten, die hochgelegenen Dörfer und fernen, abgelegenen Täler, die verschiedensten Menschen. Er verrichtete alle Arbeiten, die einen starken Rücken verlangten, packte die Planen aus und wieder ein, stellte die Zelte auf und brach sie wieder ab, fütterte und tränkte die armseligen Tiere: ein paar räudige Katzen, einige Affen, eine Meute dressierter Hunde, einen alten Bären, einen Adler mit gestutzten Flügeln, der, an seine Sitzstange gekettet, mit hängenden weißen Schwanzfedern dasaß. Der Adler starb in Chillicothe, Ohio.
Nach zehn Monaten kam der Wanderzirkus auch in die Südstaaten, und an dem Tag, an dem sie in Atlanta einzogen, half er noch die Zelte aufstellen und sagte dann dem Vorarbeiter, er müsse auf paar Tage fort, nahm einen Bus und saß im hinteren Teil des Wagens, bis er in Justin ankam.
Sarah war vor einigen Jahren gestorben, und er hatte sie längst beweint, aber er wollte sehen, wo sie begraben war, konnte jedoch das Grab seiner Großmutter nicht finden. Als er am Abend den Prediger aufsuchte, brummte der Mann, weil er nach einem langen Tag vom Pfirsichpflükken müde war, holte dann doch eine Taschenlampe, und ging mit Calvin suchen, bis er das Grab fand, klein und unbezeichnet und – wohin Sarah im Leben nie gehört hatte im Armenwinkel.
Am nächsten Tag nahm Calvin einen Mann als Hilfskraft auf. Neben seiner Mutter war keine Grabstelle frei, hingegen eine nicht allzu weit entfernt. Er grub mit dem Mann zusammen ein Grab, und sie betteten seine Großmutter um. Die Kiste, in der sie begraben worden war, zerbröckelte etwas, als sie sie aufhoben, war aber doch nach zwei Jahren in dem feuchten roten Lehm in überraschend gutem Zustand. Calvin stand abends an dem neuen Grab, während der Prediger schönklingende biblische Sätze in den sich verdunkelnden Himmel sandte. Irgendwo ganz hoch oben schwebte stolz ein Vogel. Ein Adler, entschied Calvin, aber anders als der gefangene Vogel im Zirkus, der gestorben war. Dieser hier bewegte sich
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