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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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der ersten Ungeheuer, die von den Spalten schwer verstümmelt worden waren. Sie hatten erlebt, dass zunächst die Adler und dann die Mädchen Säuglinge brachten, die ihnen ähnlich waren, aber unversehrt, unverletzt. Sie stellten Vergleiche an, und wie alle anderen auch kamen sie zu dem Schluss, dass ihnen etwas fehlte, dass sie missgestaltet waren. Mit ihrem Tod war eine Quelle der Bitterkeit – und der Gefahr – dahin, und erst, als sie nicht mehr da waren, erkannten alle, dass es so besser war. Und noch etwas verschwand mit ihnen: die Kleinkindsprache, die sie mitgebracht und den allerersten Jungen beigebracht hatten. Es gab zwei verschiedene Redeweisen, die kindliche und jene Sprache, die sie durch die Besuche der Mädchen gelernt hatten. Nach dem Tod der beiden ersten Ungeheuer kam die Kindersprache so gut wie nicht mehr vor. Alle übten miteinander die Sprache, die von Maire und Astre gesprochen wurde. Sie waren stolz darauf, das kindliche Geplapper hinter sich zu lassen. Doch nun waren zwei von ihnen fort, sie waren verschwunden, und es kam ihnen vor, als wären sie viel weniger geworden, als wären mehr als zwei von ihnen gegangen. Waren sie vielleicht die Letzten ihrer Art? Auf diesen Gedanken wären die Spalten nie gekommen: Schließlich besaßen sie jene Gabe, sie konnten neue Spalten und neue Ungeheuer gebären, während die Jungen, die männlichen Wesen, keine Menschen machen konnten.
    Sie fühlten sich bedroht. Ja, die Adler hatten ihnen die beiden neugeborenen Ungeheuer gebracht, die unter der Obhut der Hirschkuh gediehen, aber … was, wenn noch mehr von ihnen starben? Sie waren überaus verletzlich. Hin und wieder kamen Tiere aus dem Wald und griffen sie an, und mehr als einmal hatten sie einen Jungen mitgenommen. Einige Jungen waren vom Fluss mitgerissen worden. Sie waren zu wenige: Das war die Lage. Wenn zwei von ihnen grundlos sterben konnten – vom Altern besaßen sie seinerzeit noch keine Vorstellung –, dann konnte es sein, dass sie auf einmal alle starben. Die Aufzeichnungen, die wir aus dieser Zeit besitzen, erzählen von ihrer Angst.
    Sie stellten nachts Wachen gegen die Tiere auf, die zwischen den Bäumen hervorkommen konnten, und legten in Griffweite Waffen bereit. Es waren Steine – jeder wusste, wie man mit Steinen Vögel oder kleine Tiere erlegte. Sie konnten Knüppel und Stöcke schleudern und zu mehreren kleinere Tiere stellen. Aber sie wussten, dass Tiere, die in Rudeln jagten, in das Tal stürmen und sie alle mit sich zerren konnten – und dagegen waren sie machtlos.
    Als dann tatsächlich Mädchen den Hang hinunterkamen, wurden sie mit zahllosen Umarmungen, aber auch mit Warnungen begrüßt: Sie sollten sich vor Raubtieren in Acht nehmen.
    Dieser Besuch verlief gut, die Jungen freuten sich sehr und die Mädchen auch, doch dann machten sich diese plötzlich auf den Rückweg zu ihrer Küste, was den Jungen unerklärlich war. Dort bezogen sie Höhlen ganz in der Nähe von Maire und Astre, woran man schließlich deutlich sah, dass es unter den Spalten inzwischen zwei Parteien gab.
    Als die Spalten fort waren, schien es, als lebten nun noch weniger Menschen im Tal, und schon bald darauf gingen zwei verloren: Als sie im Wald nach einer beliebten Frucht suchten, wurden sie von einem großen Tier angegriffen, das zuvor noch niemand gesehen hatte. Sie rannten davon, aber nicht schnell genug, und kehrten nicht in das Tal zurück.
    Die Jungen drängten sich um den großen Baumstamm und beobachteten ängstlich den Saum des Tals. Sie fragten sich sogar, ob sie über den Berg zur Küste eilen und einige Spalten überreden sollten, sie in ihr Tal zu begleiten.
    Dann brachten die Adler zwei neugeborene Zapfen, zwei hungrige Säuglinge. Eine Zeit lang war ihre Zahl nicht angestiegen, aber nun kamen wieder zwei hinzu und ersetzten die beiden, die im Wald verschwunden waren. Doch wie sollte man die hungrigen Kleinen füttern? Die alte Hirschkuh hatte sich in letzter Zeit nicht mehr blicken lassen. Die Adler, die die Kleinen gebracht hatten, rührten sich nicht und beobachteten die Säuglinge, die laut schreiend im Gras lagen und sich die kleinen Fäuste in die Münder stopften. Die Spalten hatten immer Milch in ihren Brüsten, doch im Tal gab es dergleichen nicht. Schließlich erschien am Waldrand die alte Hirschkuh, die stehen blieb und die beiden brüllenden Kinder betrachtete. Die Jungen schrien zunächst vor Freude und wenig später vor Bestürzung auf: Sie konnten sehen, dass die

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