Die Kluft: Roman (German Edition)
Zwei Adler schwebten vom Berg herab. Mehrere junge Spalten stiegen gemeinsam von der Küste hinauf, um zu sehen, wie die Adler mit den neugeborenen Ungeheuern davonflogen.
Astre und Maire standen ruhig und beherrscht am Rand des Todesfelsens, obwohl sie in Gefahr waren.
Und dann fingen die beiden Mädchen an, den jungen Spalten von den erwachsenen Ungeheuern zu erzählen, die jenseits des Berges wohnten. Es sind Menschen, genau wie wir, sagten Maire und Astre, die langsam sprachen, weil derartige Gedanken schwierig und nicht ohne Weiteres zu begreifen waren. Es seien Menschen, abgesehen davon, dass sie vorn diese Schläuche und Klumpen hätten, mit denen die Kinder gemacht würden. Dazu seien sie da. Das sagte Maire, das sagte Astre, während die beiden vor den anderen standen und sich den feindseligen Blicken und drohenden Gesichtern stellten.
Inzwischen verbrachten die beiden ihre Zeit im Eingang zu ihrer großen Höhle, einer luftigen Höhle mit sauberem Sandboden und Wänden, die funkelten, weil der Fels dieser Gegend Kristall enthielt. Sie war in Licht gebadet, wenn die Sonne sank: Die Höhlen zeigten nach Westen, ein Wort, eine Vorstellung, die diesen Menschen nicht bekannt gewesen sein dürfte – anders als uns, seit … nun, ich darf sagen, seit Tausenden von Jahren, ohne dass mir jemand widersprechen wird.
Die beiden hielten sich dort und nicht in der kühlen Tiefe der Höhle auf, weil sie so beobachten konnten, was unten an der Küste, an ihrer Küste, vor sich ging. Es war einmal ihre Küste gewesen, doch inzwischen hatten sie Angst. Jeder, der einen Blick nach oben warf, konnte die beiden hochschwangeren Mädchen und auch das Kind sehen, die Neue, und die Blicke waren feindselig. Die Spalten dort unten waren mit ihnen verwandt, das wussten die Mädchen, sie waren ihresgleichen und zu träge, um im Auge zu behalten, wovor sie sich fürchteten: Maire und Astre. Durch die Faulheit ihrer Schwestern waren Maire und Astre sicher vor ihnen. Schwestern: Die Spalten dort unten waren nicht nur mit ihnen verwandt, sie waren ihre Schwestern. Man braucht den Begriff Brüder nicht, um von Schwestern zu reden, obwohl das Wort »Schwester« schon nahelegt, dass es etwas Entgegengesetztes gibt.
Wie schläfrig und träge es doch zuging, dort unten auf den Felsen. Die Spalten konnten nach der Flut daliegen und dösen, bis die nächste ihre Füße mit kühlem Wasser bespritzte. Dann gähnten sie, glitten in die Wellen, schwammen ein wenig und stiegen wieder hinaus, um sich auf den Felsen zu räkeln.
Und über ihnen lag die Öffnung der Höhle, in der die schwierigen Schwestern Astre und Maire saßen und das Kind wiegten, die Neue. Dieses Kind musste öfter geschaukelt und beruhigt werden als jedes andere zuvor, doch früher hatten die Kleinen auch nicht so geschrien und gezetert. Maire und Astre versuchten, das Kind zur Ruhe zu bringen, denn sie wollten die Schwestern dort unten nicht auf sich aufmerksam machen. Aber das Kind schrie weiter, und sein Geschrei zermürbte jene gleichmütigen, trägen Nerven, denen Gereiztheit oder Verärgerung im Grunde unbekannt waren. Warum weinte es so viel, dieses allererste Mitglied einer kommenden Art, unserer Art, der Menschheit? So weit dürften die beiden nicht gedacht haben, als sie ahnten, dass hier, mit der Neuen, etwas Neues begann.
Was hatte es mit jener neuen Spalte auf sich, die etwas vom Wesen der Ungeheuer in sich trug? Normalerweise weinten kleine Kinder nur, wenn sie hungrig waren oder in die Wellen getaucht wurden oder vielleicht sogar ein wenig schwimmen wollten. Jene Menschen konnten früher schwimmen als laufen, denn das Wasser war ihr Element. Ansonsten weinten kleine Kinder normalerweise nicht. Aber dieses hier konnte schluchzen und sogar heulen, als wäre sein kleines Herz gebrochen. Ob sie, diese Spalte einer neuen Art, ob dieses andersartige Kind wusste, dass es von seltsamer, neuer Beschaffenheit war? Wenn sie so weinte, klang das nach tiefem Kummer, doch Kummer war jenen Menschen eher fremd. Sie liebten einander nicht heftig und ausschließlich, sie sagten nicht: »Ich will nur sie, nur diese eine«, und niemand wollte hören: »Ich will nur sie.«
Und weil diese Ausschließlichkeit fehlte, weil niemand den einen und nur den einen Menschen wollte und begehrte, kamen bestimmte Formen von Kummer gar nicht auf.
Doch dieses Kind klang verzweifelt, als würde ihm etwas fehlen. Und weil diese Kleine, die Neue, so schrie, empfanden die beiden Mädchen etwas,
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