Die Kluft: Roman (German Edition)
das neu war.
Bei den beiden jungen Spalten kamen Vorstellungen, Gefühle, Worte, Gedanken auf, mit denen wir, die Menschheit, inzwischen problemlos und ohne Anstrengung umgehen können, aber sie saßen beunruhigt und verwirrt darüber am Zugang zu ihrer Höhle.
Die beiden weiblichen Wesen mit dem Kind, die nach der Geburt zweier weiterer Kinder bald zu fünft sein würden – sie waren neu auf dieser unserer Welt, etwas Neues, und ihre Existenz hätte durchaus ein jähes Ende finden können, durch einen herabfallenden Felsen oder einen sich anschleichenden Feind … einen
Feind
? Was sollte das sein? Ein Feind ist jemand, der einem Schaden zufügen will, und jene Spalten, die unten auf ihren Felsen dösten, waren Feinde, besonders die Alten.
Nachts, im Dunkeln, wenn der Mond nicht schien, zogen sie sich tief in den hinteren Teil der Höhle zurück und versteckten sich hinter den Felsnasen, jede Nacht an einem anderen Platz. Möglicherweise würde jemand ungesehen hereinschleichen, weil sich vor den Sternen kein Umriss im Zugang zur Höhle abzeichnete, und … was dann? Würde dieser Jemand einen Stein nehmen und …
Undenkbar, diese neuen Gedanken.
Die beiden dachten oft über jene »Anderen« nach, dort drüben in ihrem Tal. Es waren die Väter der Neuen, der ungeborenen Kinder und des kleinen Ungeheuers, das Astre ins Tal gebracht hatte. Vater … ein Wort, das niemand jemals gebraucht hatte, das nun aber dem Wort Mutter entgegenstand. Wenn die Spalten keine Mütter waren, was waren sie dann? Sie waren die Mütter von Spalten und Ungeheuern, unser aller Mütter, unsere Mütter aus der Vorzeit.
Wenn man einen heranwachsenden Zapfen und eine heranwachsende Spalte mit jeweils bedeckter Körpermitte betrachtete, war kein Unterschied zu erkennen, obwohl die eine Mutter und der andere Vater werden konnte. Was eine Mutter war, wussten sie: Spalten hatten eine Fähigkeit, die den anderen fehlte; sie waren in der Lage, neue Menschen zu machen. Doch was war dann ein Vater? Maire und Astre konnten jeder jungen Spalte, die ihnen zuhören wollte, und selbst den Alten erzählen, dass die Menschen der neuen Art neue Kinder machten, doch was es war, das die Väter beisteuerten, vermochten sie nicht zu erklären. Aber das Ergebnis war da, sie hielten es fest an sich gedrückt in den Armen – in Form von Maires Kind, der Neuen.
Man hätte annehmen können, dass die beiden vorhatten, die Neue zu nehmen und fortzugehen, über den Berg in das Tal, was im Grunde nur ein Spaziergang war – doch das taten sie nicht. Der geheimnisvolle Einflüsterer schwieg. Wenn die Spalten dort unten ihre Schwestern waren, waren die anderen jenseits des Berges ihre Brüder, und sie waren Väter. Bei den Zapfen gab es keine Alten, keine Alten Männlichen. Doch das war nicht schwer zu verstehen; weil nicht genügend Zeit vergangen war, gab es keine Alten im Tal. Jung – alt; das war nicht schwer.
Ich
– die Spalten,
sie
– die Menschen, die man einst Ungeheuer genannt hatte.
Durch das Aufkommen jener neuen Menschen begannen sie, in Gedanken Vergleiche anzustellen – woraufhin jede Vorstellung einen Schatten warf.
Was die Anderen in ihrem Tal anging, so sehnten sie sich nach den Mädchen und erwarteten täglich, dass sie den Berg hinunterkamen. Sie hatten Beobachtungsposten aufgestellt, um die Mädchen bei ihrer Ankunft willkommen heißen zu können. Und darüber hinaus gab es die Adler, denen nichts entging. Manchmal schlichen sich Jungen über die felsigen Hänge an die Küste heran. Sie wollten Maire und Astre sehen, doch andere Spalten erkannten sie nicht.
Für die männlichen Wesen war es unangenehm, einen Busch oder hohes Gras zu streifen, weil ihre Zapfen ruhelos und reizbar waren, manchmal groß und manchmal schlaff, doch meist steif vor Verlangen. Sie wussten allerdings nicht, dass ihre Not, ihr Verlangen, den Zapfen zuzuschreiben war, sondern glaubten, es wäre ihre gesamte Person, die etwas wollte und brauchte. Sie bekämpften einander ohne jeden Grund und erfanden Spiele, bei denen sie sich manchmal auf gefährliche Weise maßen. Als einer von ihnen fand, dass sein Zapfen im Weg war, band er sich Adlerfedern und Blätter um die Lenden, und daraufhin fingen alle an, miteinander zu wetteifern, wer den schönsten Schurz machen konnte. Bald trugen alle schmückende Kleidung und waren sehr erfindungsreich, wenn es darum ging, neue zu entwerfen.
Dann geschah etwas Unerwartetes: Zwei der Ältesten unter ihnen starben: zwei
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