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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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verbündet, und wenn es zu Wehen kam und eine Geburt bevorstand, waren sie da, um das Neugeborene sofort zu packen und den wartenden Adlern zu übergeben.
    Es gab immer weniger Spalten der alten Art. Wie viele mögen es gewesen sein? Doch es hieß nie: »Wir waren sechzig und jetzt sind wir noch vierzig«, oder auch nur: »Wir waren viele und jetzt sind wir sehr wenige« – zumindest wurde dergleichen nicht aufgezeichnet. Nie hieß es: »Früher waren alle Höhlen bewohnt und jetzt nur noch die Hälfte.« Die Vorstellung von der »Hälfte« ist für uns ganz selbstverständlich. Aber für sie?
    Im Lager der männlichen Wesen versorgte man die Neugeborenen und wartete darauf, dass die Adler in ihren Klauen weitere brachten.
    Während Maire und Astre schwanger waren, sprachen sie oft von den männlichen Wesen und davon, dass sie auf ganz andere Weise als die Spalten Leben schenkten. Wenn sie an das Tal dachten, empfanden sie, ja, ich denke, man kann es Zuneigung nennen, auch wenn sie dieses oder ähnliche Worte nie benutzten. Als die Geburten hinter ihnen lagen, waren sie sofort zum Aufbruch bereit. Lange Zeit hatten sie nicht daran gedacht, fortzugehen, doch nun mussten sie es tun. Es
musste
sein. Unter all jenen Geheimnissen ist dieses gewiss so bedeutend wie jedes andere auch.
    Doch mittlerweile war es nicht mehr so leicht, einfach fortzugehen. Sie würden Astres Kind mitnehmen müssen, wenn sie es nicht einem Adler anvertrauen wollten. Und Maire konnte ihr Kind auch nicht zurücklassen, wie sie es früher getan hätte. Auf keinen Fall konnten sie das Kleinkind, die Neue, an der Küste zurücklassen, sie wussten, dass es bei ihrer Rückkehr höchstwahrscheinlich nicht mehr am Leben sein würde. Maires Neugeborenes, Astres kleiner Junge und die Neue – sie alle mussten mit. Die beiden Mädchen luden einige jüngere Spalten ein, sie in das Tal zu begleiten, weil sie sich danach erkundigt hatten. Schließlich gingen vier Frauen, von denen eine die Neue trug, am Todesfelsen vorbei, auf dem lange niemand mehr zum Sterben ausgesetzt worden war, und stiegen den Berg hinauf. Als sie den Gipfel erreichten, hörten sie aus dem Talgrund Jubel und Geschrei, und die Jungen kamen angerannt, die Mädchen zu begrüßen. Sie mussten sich verteidigen, um nicht vergewaltigt zu werden (ein Wort, eine Vorstellung, die erst wesentlich später aufkommen sollte). Die Mädchen wehrten die gierigen Jungen ab und erreichten den Talgrund mit dem großen Baumstamm, um den sich alle versammelten. Was dort geschah, belegt den Eindruck, dass etwas Neues begann, so eindrücklich, dass es in den Chroniken beider Seiten zur Sprache kommt. Und wir haben durch jene schlecht leserlichen, verblassten Dokumente davon gehört, die wir Historie nennen.
    Maire konnte sich kaum noch an das Gesicht des Zapfens erinnern, mit dem sie sich als Erstem vereinigt hatte, auch nicht, als er sie erkannte und näher kam. Auf dem Arm trug sie das aus dieser Vereinigung entstandene Kind, das sich wie immer deutlich bemerkbar machte. Und das Gesicht der Kleinen glich dem des jungen männlichen Wesens genau. Es fiel einfach auf: Jedem fiel es auf. Ganz plötzlich wurde es still, und es blieb still, während alle näher kamen, um die beiden Gesichter zu vergleichen, das Gesicht des kleinen Mädchens oder der Spalte und das des jungen Mannes. Der Besitzer des erwachsenen Gesichts, Maires erster Partner, begriff zunächst nicht. Der Spiegel war noch nicht erfunden, und man hatte von so etwas bisher keine Vorstellung. Die Menschen wussten, wie die anderen aussahen, doch bislang hatte sich niemand etwas aus einer langen Nase oder aus dicht zusammenstehenden Augen gemacht. Und doch musste jeder Einzelne sein Gesicht schon einmal in den ruhigen, trägen Seitenarmen des Flusses gesehen haben, oder sogar in einer der großen Muscheln, die mit Wasser gefüllt für die Durstigen bereitstanden. Das einstige Ungeheuer, aus dem ein gut aussehender junger Mann geworden war, stand da, betastete langsam sein Gesicht und berührte dann das des Kindes, das sich über die Aufmerksamkeit freute, die es erregte. Als der Vater allmählich begriff, was diese Ähnlichkeit der Gesichter zu bedeuten hatte, entriss er Maire das Kind und rannte zum Flussufer. Alle folgten ihm und sahen zu, wie der junge Mann an dem Becken niederkniete, wo der Fluss sich staute, und auf sich selbst und dann auf das Kind niederblickte, das sich dort ebenfalls spiegelte. Anschließend reichte er Maire das Kind, ging

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