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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Zitzen des Tiers welk und trocken waren – sie hatte keine Milch. Das Tier war alt; seine Schnauze und die Ohren ergrauten. Die Hirschkuh hob den Kopf, sah die Jungen lange an und schließlich auch die Adler. Dann lief sie ein Stück in den Wald hinein und stieß einen Ruf aus. Eine Zeit lang geschah nichts, während die hungrigen Säuglinge weiter klagten. Die Hirschkuh stieß einen weiteren Ruf aus, wandte sich schließlich um und begrüßte zwei junge Hirschkühe Nase an Nase. Die drei Tiere standen dicht beieinander, und es schien, als würde die Alte erklären, was zu tun sei. Bald darauf traten zwei Kälber, die sich gefürchtet hatten, zu den drei großen Hirschkühen hinzu. Die beiden jüngeren gingen zu den Säuglingen hin, blieben dicht bei ihnen stehen, sahen die große alte Hirschkuh an, die sehr wahrscheinlich ihre Mutter war, betrachteten die Kleinen und warfen den Jungen, die sie beobachteten, schließlich lange Blicke zu. Die Kälber begannen zu saugen. Jene erste Hirschkuh, die alte, hatte ihr Kalb verloren, als sie seinerzeit gekommen war, um die ersten Kinder zu säugen. So musste es gewesen sein, und sie hatte sich neben die Kleinen gelegt, um sie zu füttern. Doch Kälber legen sich zur Fütterung nicht hin, sie bleiben unter der Mutter stehen.
    Einer der Jungen schlich sich an eine Hirschkuh heran, worauf das Kalb davonsprang. Er hob einen schreienden Säugling auf und hielt ihn an eine Zitze, aus der Milch tropfte. Als das Kind sie zu fassen bekam, saugte es ein wenig, was weder der Hirschkuh noch dem Kalb gefiel. Bevor die andere junge Hirschkuh weglaufen konnte, hielt derselbe Junge den zweiten hungrigen Säugling an deren Zitzen. Auf diese Weise bekamen beide Kinder einige Schlucke Milch, doch obwohl die alte Hirschkuh dicht an die jüngeren Tiere herantrat und mit der Nase zuerst das eine und dann das andere Kind anstupste, schien es, als hätten die Tiere beschlossen, die Sache aufzugeben. Bevor sie davongingen, nahm einer der Jungen rasch einen Kürbis, in dem er etwas ausfließende Milch auffing, und ein anderer tat es ihm nach. So gab es in den beiden Kürbissen einen kleinen Vorrat an Milch.
    Die alte Hirschkuh ging langsam in den Wald davon. Nun konnten die Jungen sehen, dass sie lahmte und den Kopf nicht hoch, sondern gesenkt hielt und dass die weiße Blume an ihrem Hinterteil schlaff herabhing, statt lebhaft zu zucken wie bei den jüngeren Tieren.
    Die beiden Jungen hatten zwar nie mütterliche Fürsorge erlebt, waren aber von der alten Hirschkuh, die sich nun hinkend von ihnen entfernte, angestupst und abgeleckt und gefüttert worden. Sie stießen Klagelaute aus, die für einen Moment das Schreien der Säuglinge übertönten.
    Was sollten sie tun? Als die Adler das Problem erkannten, rissen sie tatsächlich kleine Fischstückchen ab und versuchten, sie den schreienden Säuglingen in die weit aufgerissenen Münder zu stecken.
    Und jenseits des Bergs lag die Küste, wo die Spalten lebten und Milch in ihren Brüsten hatten. Also eilten die Jungen den Berg hinauf, am Todesfelsen vorbei und auf der anderen Seite wieder herunter, bis sie schließlich gut sichtbar vor den Felsen standen, auf denen sich die Spalten aalten. Die beiden Einzelgängerinnen sahen sie vom Zugang ihrer Höhle aus und riefen nach ihnen. Als sich die Alten Weiblichen gerade aufrichten und die beiden Jungen vielleicht sogar angreifen wollten, erreichten diese die Höhle, in der Maire und Astre wohnten. Sie erkannten Astre, die sie als Schwangere gesehen hatten, doch Maire erkannten sie nicht sofort. Weil ihre Mission so dringlich war, waren sie unvorsichtig und bückten sich, um mit den Händen nach den Brüsten zu greifen, den lebensrettenden Brüsten – ja, es war Milch darin. Maire und Astre begriffen, warum die Jungen gekommen waren: Sie hatten sich schon gefragt, wie die beiden Säuglinge die Fütterung durch die Hirschkuh angenommen hatten.
    »Was macht ihr da?«, fragte zuerst Maire und dann Astre, und die Jungen antworteten: »Milch, wir brauchen Milch.«
    Bei den jüngeren Spalten hatte sich etwas verändert. Natürlich war nicht zu erwarten, dass sich diejenigen rührten, die ohnehin gerade aus dem Tal gekommen waren – die meisten anderen aber waren zum Zugang der Höhle hinaufgeschlichen und hatten Maire und Astre nach jenem Lager dort drüben ausgefragt. Und sie hatten mit den Mädchen gesprochen, die gerade zurückgekehrt waren. Die Unruhe, die einst in Maire und Astre zu gären begonnen hatte,

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