Die Kluft: Roman (German Edition)
beseitigt werden. Sie hatten ihn ins Meer geworfen, doch er war wieder angespült worden und lag nun zerschmettert in Horsas Nähe. Eines derjenigen Mädchen, die ein Kind verloren hatten, kam und betonte, das Meer nehme die Toten nicht an, und es sei viel besser, den Leichnam zu bestatten. Also wurde Horsas Kamerad im Sand begraben, während Horsa daran dachte, dass er selbst in dem erstickenden Sand hätte verschwinden können. Ein anderes Mädchen brachte ihm Wasser und Essen vom abendlichen Mahl, doch die größeren Jungen und die jungen Männer sprachen nur von den Kleineren, die ein erlegtes Tier von der Jagd mitgebracht hatten und es nun an ihrem eigenen Feuer ganz in der Nähe zubereiteten, statt es zusammen mit den anderen zu verzehren, wie es eigentlich üblich war. Die Kinder tanzten und sangen und verspotteten die Älteren, die um ihre eigenen Feuer saßen, denn ihre Unabhängigkeit machte sie wild. Horsa rief ihnen zu, dass sie herkommen und am gemeinsamen Mahl teilnehmen sollten, doch die Kinder beachteten ihn nicht. Niemand beachtete Horsa, und er verstand es nicht und schien auch nicht zu begreifen, dass sich eine gewisse Ausgelassenheit und Anarchie nur durchsetzen konnte, weil er nicht als Anführer zur Stelle war, der die Befehlsgewalt hatte und jederzeit das Zentrum der Autorität darstellte. Nein, er lag von Schmerzen geschwächt im Sand oder kroch herum, versuchte mühsam sich hinzusetzen.
Das Meer hatte ein Stück Holz an den Strand geworfen, und Horsa packte es und versuchte, sich daran aufzurichten. Einige drehten sich nach ihm um und starrten ihn an, und dann lächelten sie und tauschten Blicke. Der gekrümmte Stock sah neben dem gekrümmten Bein wie ein Zerrbild aus, und als die kleinen Jungen am anderen Feuer Horsa mit drei Beinen sahen, von denen eines kraftlos herabhing, fingen sie an zu spotten und auf ihn zu zeigen. Die Älteren taten es ihnen nach. Horsa stand wankend da und hielt sich angestrengt an seinem Stock fest, bis er schließlich hinfiel, worauf alles laut lachte. Horsa versuchte vergeblich, wieder aufzustehen. Das Mädchen, das ein Kind verloren hatte, kam und wollte ihm dabei helfen, doch es gelang ihr nicht. Sie ging wieder davon. Horsa lag da, hilflos und wie ein beschämtes Tier. Er fühlte sich ausgestoßen, und als die kleinen Jungen ihn umringten, auf ihn zeigten und ihn verspotteten, krümmte er sich im Sand und wäre am liebsten unsichtbar gewesen. Dann gingen auch die Jungen fort und zogen sich wieder in den Wald an der Küste zurück. Die größeren wollten am nächsten Tag auf die Jagd gehen. Niemand schien ihn auch nur zu bemerken. Er musste davonkriechen, um seine Notdurft zu verrichten, und legte sich danach hinter einen lang gestreckten Felsen, der ihn fast ganz verbarg. Niemand sprach mit ihm. Er verstand sich selbst nicht mehr. Immer war er gesund und stark und gut aussehend gewesen – am liebsten wäre er ganz verschwunden.
Am Morgen erwachte er mit schlimmen Schmerzen, rasend vor Durst, und musste langsam zu dem Behälter kriechen, in dem das Wasser aufbewahrt wurde. Er konnte die große Muschel nicht anheben. Außer ihm waren erst wenige wach. Die jungen Männer waren zur Jagd gegangen, und die kleinen Jungen waren gar nicht da. Einige Mädchen saßen mit ihren Kleinen abseits von den anderen und sahen ihn, wollten ihm aber offenbar nicht helfen. Als eines der Mädchen sah, dass er im Begriff war, die Muschel fallen zu lassen und Wasser zu verschütten, kam sie und gab ihm welches. Sie war nicht unfreundlich, doch er war anderes gewöhnt … was war es, das ihm fehlte, was war es, das sie ihm nicht bot? Es war jener Respekt, der ihm immer entgegengebracht worden war und den er brauchte.
Als er genug getrunken hatte, drehte er sich um und blickte aufs Meer, und er sah einen Lichtschimmer weit in der Ferne, wo Meer und Himmel sich trafen, und wusste, dies war der Ort seiner Fantasie, das Land, in dem er alles finden würde, was er sich wünschte – obwohl er im Grunde erst wusste, wonach er sich sehnte, seit er den rosig perlmutternen Küstenstrich gesehen hatte, an dem große weiße Vögel die Bäume schmückten wie im Traum. Er zog sich vor der sengenden Sonne in den Schatten der Felsen zurück und hörte nicht auf zu starren, während die lockende Küste mit dem Stand der Sonne die Farbe wechselte. Niemand kam, um ihm Hilfe, Wasser oder Nahrung anzubieten oder mit ihm zu reden. Er hätte so gern alles über jenen wundersamen Ort erzählt, den er
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