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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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sehr bald, aber dann fing ihr zerbrechliches Fahrzeug an, auf den Wellen zu schaukeln und zu tanzen, und von jener schimmernden, vielversprechenden Küste her wehte ein Wind, der an den Sturm erinnerte, durch den ihre Boote zerstört worden waren. Die dunkle Wolke, die über der Küste hing, wurde in dünnen schwarzen Strahlen auf sie zugeweht, und sie merkten, dass sie zu ihrem Ausgangspunkt zurückgetrieben wurden. Schneller, immer schneller wurden sie über die inzwischen hohen, wilden Wellen geweht, während sie sich an einer Handvoll Schilf festhielten, denn mehr war nicht übrig von ihrem Floß, das sich auflöste und im Meer versank. Horsa und sein Freund schaukelten wie Schaum auf den Wellen, wurden herumgeschleudert und -gewirbelt und schließlich hart und grausam auf den Strand geworfen, den sie mit der Morgendämmerung verlassen hatten. Es war schon lange Nacht, und überall am Strand flackerten Feuer. Der junge Mann, Horsas Freund, lag verkrümmt und zerschmettert da, rührte und regte sich nicht und erwachte nie wieder zum Leben. Horsas Bein war zertrümmert, es war verdreht, und er lag auf dem warmen Sand und schluchzte vor Schmerz und noch mehr vor Enttäuschung.
     
    Hier muss ich nun noch einmal intervenieren. Ich tue das, weil mir dieser junge Kerl so leidtut, Horsa, wie er verletzt im Sand liegt und von jenem Ort träumt, den er nicht erreichen konnte. Immerhin hat er es versucht … Ich habe das Gefühl, er ist wie mein jüngeres Ich oder auch so etwas wie ein Sohn. Wonach er sich wohl sehnte, als er die ferne Küste sah und dorthin wollte? Ich weiß, manche meinen, dass die Griechen zum Thema Zielstrebigkeit das letzte Wort gesprochen haben. Doch ich mache da keine Zugeständnisse an die Griechen, nicht auf diesem Gebiet. Ich gehöre zu denen, die glauben, dass wir Römer die Griechen übertroffen haben. Horsa war nicht auf ein besseres Leben aus – für mich ist er einer unserer Vorfahren, ein Vorfahre der Römer. Was wir sehen, müssen wir erobern, und alles, von dem wir wissen, müssen wir auch kennen. Horsa war in seinem Wesen Kolonisator, und zwar bevor es das Wort und die Vorstellung überhaupt gab. Wenn ich den armen Horsa verkrüppelt dort liegen sehe, denke ich daran, wie sich Rom durch unser Bedürfnis nach Expansion, nach Besitz selbst Schaden zugefügt hat. Ich denke an meine beiden armen Söhne, die irgendwo in den Wäldern des Nordens liegen. Rom muss über sich selbst hinausgehen, es muss wachsen, sich weiter ausdehnen. Immer weiter werden die Grenzen unseres römischen Imperiums gezogen. Warum sollten wir je an ein Ende stoßen, mit Rom, mit unseren Grenzen? Die unterworfenen Völker mögen uns bekriegen, aufhalten können sie uns nicht. Manchmal stelle ich mir vor, dass die ganze bekannte Welt römisch ist, unserer wohltätigen Herrschaft unterworfen, römischem Frieden, römischem Gesetz und Recht, römischer Tüchtigkeit. Wahrhaftig, wir bringen Wüsten zum Erblühen und alle eroberten Länder zum Gedeihen. Eine Macht, die größer als die menschliche ist, führt uns, leitet uns, zeigt uns, wohin unsere Legionen als Nächstes ziehen müssen. Und jedem, der uns kritisieren will, kann ich nur sagen: Wenn uns die nötigen Eigenschaften fehlen, um die ganze Welt erblühen zu lassen, warum will dann jeder römischer Bürger sein? In allen Teilen unseres Imperiums und darüber hinaus will jeder, jeder Einzelne, als freier Mann unter römischen Gesetzen und im römischen Frieden leben. Gebt mir Antwort darauf, ihr Nörgler und Zweifler. Was mich angeht, so stelle ich mir vor, wie der armen Horsa auf seinem Flecken Sand liegt und zum Krüppel geworden ist, weil er jenes andere, wunderbare Land unbedingt kennenlernen musste – und insgeheim ist er ein Römer für mich. Einer der Unsrigen. Einer von uns.
     
    Horsa lag da wie ein Kind und verdeckte sein Gesicht mit einem Arm, und als er wieder sprechen konnte und die anderen ihm zuhören wollten, erzählte er von den Wundern der fernen Küste. Zwar gab es in diesem Land, ihrem eigenen, prächtige Bäume und Vögel und Tiere, deren Augen im Gebüsch funkelten – doch jene unerreichte Küste, von der ihn der tyrannische Wind so gnadenlos weggetrieben hatte, jenes neue Land war auf eine Weise verführerisch und begehrenswert, wie es das eigene niemals sein konnte.
    Aber die anderen wollten das offenbar gar nicht hören. Sie hatten ihre Aufgaben zu erledigen und Probleme zu bewältigen, vor allem musste der Leichnam des jungen Mannes

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