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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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gesehen hatte, an dem er beinahe gelandet war, an dem …
    Wenn man sein ganzes Leben lang eine natürliche Autorität besessen hat, etwas, von dem man gar nicht wusste, dass man es besaß, und diese Eigenschaft dann verliert, fällt es sogar schwer, die richtigen Fragen zu stellen. Was war es, das Horsa verloren hatte? Was war es, das ihm nun fehlte und das alle anderen bei ihm suchten? Horsa hatte sich nie dafür entschieden, Anführer zu sein und viele verfeindete Gruppen zu vereinigen – wenn er es überhaupt gewesen war, der das bewerkstelligt hatte, und nicht jemand anderes, von dem er seine Autorität lediglich geerbt hatte. Horsa hatte nicht darum gekämpft, bei anderen Autorität zu besitzen, aber er hatte sie immer gehabt. Warum also schienen seine Kameraden nun taub zu sein, wenn er mit ihnen sprach? Das Mädchen, das seinem Ruf gefolgt war und ihm Wasser gebracht hatte, saß nun neben ihm, während er von dem wunderbaren Land erzählte, das er gesehen hatte, mit eigenen Augen, bevor ihn der Wind über das Meer an seinen Strand zurückgeweht hatte. Sie sagte daraufhin, er dürfe nicht daliegen und von seinen Visionen murmeln, denn die anderen hätten ihn bereits für verrückt erklärt und seien beunruhigt. Ihr Unternehmen sei im Scheitern begriffen und in Gefahr. Es müssten Entscheidungen getroffen werden, aber von wem? Jedenfalls nicht von dem verkrüppelten, herumkriechenden Horsa – das stand für sie außer Frage. Er, Horsa, müsse einen der jungen Männer auswählen, der mit ihm zusammenarbeiten und die Befehlsgewalt übernehmen solle. Während Horsa in seinem Delirium von jenem anderen Land murmele, sei Gefährliches im Gange.
    Die jungen Männer schenkten Horsa keine Beachtung, wenn er versuchte, mithilfe seines krummen Stocks umherzustolpern. Die Mädchen waren auch nicht besser. Sie hatten nicht mehr so viele Kinder, weil einige gestorben waren, und keiner war eine Schwangerschaft anzusehen. Sie saßen zusammen und hielten sich von den Männern fern, so gut sie konnten, bekamen aber ihren Anteil an Nahrung. Die kleinen Jungen erschienen hin und wieder zum allabendlichen Mahl, waren aber meistens unterwegs: Manchmal konnte man ihre Stimmen hören, die aus dem Wald widerhallten. Inzwischen waren sie gar nicht mehr zu bändigen. Sie waren noch Kinder und hatten noch keine Männerkörper, aber sie waren tapfer und geschickt wie die Männer selbst, die in Wirklichkeit Angst hatten, es mit ihnen aufzunehmen.
    Die Mädchen wollten offenbar, dass irgendjemand Befehlsgewalt oder Autorität besaß, doch als sie versuchten, die kleinen Jungen zu bändigen, hörten sie, sie seien nur Spalten und sollten den Mund halten.
    Als wieder ein Kind geboren wurde, sagten die jungen Männer den Mädchen, dass sie mit ihren schreienden Säuglingen unter sich bleiben sollten, und daraufhin hielten sich die Mädchen von der Gemeinschaft immer ein wenig fern.
    Horsa konnte keinen der großen Jungen dazu bringen, sich ihm zu widmen oder ihn auch nur als Kamerad zu betrachten. Niemand wollte zuhören, wenn er von jenem anderen Land erzählte, das bei Sonnenuntergang dunkel perlmuttern und golden schimmerte, während darüber die schwere blaue Wolke hing.
    Niemand wollte etwas mit Horsa zu tun haben.
    Mit Horsas Verkrüppelung war im Grunde so etwas wie ein vereinigender Geist aus der Gruppe gewichen. Wie konnte es sein, fragte er sich, als er verwundet im Schatten seines Felsens lag, dass diese Menschen ihn noch vor Kurzem für stärker und besser als alle anderen gehalten und auf alles gehört hatten, was er sagte?
    Abgesehen von den kleinen Jungen natürlich: Sie hörten schon ziemlich lange auf niemanden mehr.
    Maeve, das Mädchen, das manchmal freundlich war und Horsa gewarnt hatte, kam und erzählte ihm, die Jungen hätten eine Höhle oder ein Höhlensystem gefunden, in dem sie sich nun aufhielten. Ob er denn nicht gemerkt habe, dass sie schon länger nicht mehr unter den anderen seien? Horsa erschrak. Es war ihm nicht aufgefallen. Er schien gar nichts mehr zu bemerken bis auf den Schmerz, das schwere, unbewegliche Bein. Doch er richtete sich mithilfe des Stocks mühsam auf und übte Gehen, schleppte sich vielmehr über den Sand.
    Sobald er auf den Beinen war, schienen ihn die anderen wieder wahrzunehmen, obwohl er auf den stützenden Stock nicht verzichten konnte. Seine Geschichten über das neue Land wollten sie nicht hören, doch wenn er etwas sagte, waren sie aufmerksam.
    Dass Maeve nach den Kindern fragte,

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