Die Knoblauchrevolte
Gesang machte Jinjü ihre eigene Einsamkeit schmerzlich bewußt.
Gebückt schnitt der Ältere Bruder Bohnen. Dabei zog er sein lahmes Bein auf eine Weise nach, die komisch wirkte, aber Jinjü ertrug es nicht, ihm zuzusehen. Zu eng war dieses verkrüppelte Bein mit ihrem Schicksal verbunden. Wie oft hatte sie in den zwei Monaten ihres Eingeschlossenseins geträumt, daß sein verkrüppeltes Bein auf ihrer Brust stand und ihr die Luft abdrückte! Wenn sie – atemlos – erwachte, schwammen ihre Augen in Tränen.
Neben ihrem Bohnenacker lag das Maisfeld von Gao Ma. Sein Mais war schon reif, aber noch nicht geerntet. Gao Ma! Gao Ma, wo steckst du bloß? Sie mußte an den letzten Sommer denken, an Gao Mas großen und kräftigen Körper. Sorglos pfeifend war er dahergekommen, hatte ein paar Worte gesagt und ihr bei der Weizenernte geholfen. Noch immer hörte sie seine Stimme und sah seine Gestalt.
Sie erinnerte sich weiter, und ihr Herz krampfte sich zusammen. In ihren Ohren war wieder das dumpf klatschende Geräusch der Holzschemel, die ihre Brüder Gao Ma auf den Kopf schlugen. Wenn sie es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wäre es für sie unvorstellbar gewesen, daß ihr stets freundlicher älterer Bruder so grausam sein konnte.
»Schwester, mach eine Pause, wenn du erschöpft bist. Setz dich an den Feldrand. Ich mach alleine weiter.«
Das Gesicht ihres Bruders verzog sich, als er das sagte. Seine Augenwinkel waren von Falten gekerbt. Die Farbe seiner Augen war ein helles Grau. Sein Blick wirkte stumpf und starr. Aber hinter seinem Gesichtsausdruck lag etwas verborgen, das sie nur empfinden, aber nicht in Worte fassen konnte, etwas, das wie sein lahmes Bein war, voller Narben und verwachsen. Es war ein Unglück, das Mitleid auslöste. Es war aber auch etwas Häßliches, und seine Häßlichkeit löste Widerwillen aus. Das Gefühl, das sie für ihren Bruder empfand, war identisch mit dem Gefühl, das sie für sein lahmes Bein empfand, eine Mischung aus Mitleid und Widerwillen. Bedauern und Abscheu, Abscheu und Bedauern. In diesen widersprüchlichen Regungen fühlte sie sich wie verfangen. Das Maisfeld rauschte plötzlich. Ein kühler Wind regte sich. Er fuhr streichelnd über ihre Haare, kroch ihr unter den Kragen und kühlte ihren ganzen Körper. Die Sehnsucht nach Gao Ma hielt sie davon ab, das Maisfeld anzuschauen, und zwang sie zugleich dazu. Der Wind ließ nicht nach. Das Rauschen im Mais verstärkte sich. Die schon vertrockneten Maisfäden und die halbverwelkten Stengel konnten sich nicht mehr wie in ihrer Jugendzeit mit dem Wind bewegen, ihre grünen Blätter sanft flatternde Seidenbänder, die kühle, grüne Wellen bildeten. Der Gedanke daran machte sie traurig. Jetzt standen die Pflanzen ganz starr, und der Wind konnte sie nur noch zum Zittern bringen, nicht mehr zum Schwingen.
Auch die verdorrten Bohnenblätter raschelten. Einige streiften den Boden. Die trockenen und harten Schoten stachen ihr in die Hände. Das tat weh. Sie betrachtete ihre durch zwei Monate Untätigkeit zarter gewordenen Hände und seufzte. Ihr war selbst nicht klar, weshalb sie seufzte. Sie bemerkte, daß ihr Bruder sie schief ansah. Ihre Abneigung gegen ihren Bruder wuchs im gleichen Maße, wie ihre Sehnsucht nach Gao Ma zunahm.
Mechanisch pflückte sie die Bohnen. Unter ihrer gedankenlos geschwungenen Sichel sprang ein graugelber Hase hervor. Er war nicht größer als eine Faust und hatte lackschwarze Augen. Der kleine Hase hoppelte sehr langsam davon. Sie warf die Sichel hin und hatte ihn mit zwei Schritten eingeholt. Der Hase machte sich ganz klein und legte die Ohren eng an, als ob er Angst hätte. Sie hockte sich neben ihn und legte eine Hand auf ihn. Als sie ihm über die Ohren strich, erfüllte warmes Mitgefühl ihr Herz. Seine Ohren waren so zart wie durchsichtige Blütenblätter. Sie hatte Angst, seine Ohren zu verletzen, deshalb umfaßte sie ihn mit beiden Händen. Sein warmer, weicher Bauch lag auf ihrer Handfläche. Er schnupperte unbeholfen und angstvoll an ihrem Handrücken. Sie war tiefgerührt.
»Such eine Schnur und binde ihn irgendwo fest«, sagte der Ältere Bruder, der zu ihr getreten war, »vielleicht können wir ihn großfüttern.« Sie faßte in ihre Tasche und suchte nach etwas, um ihn zu fesseln. Es war nichts da. Enttäuscht blickte sie zu Boden. Der Bruder zog einen Schnürsenkel aus seinem Schuh und band ihn wortlos am Hinterbein des Hasen fest, der kräftig mit den Beinen strampelte. Sie starrte
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