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Die Knoblauchrevolte

Die Knoblauchrevolte

Titel: Die Knoblauchrevolte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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auf den jetzt unbeschuhten Fuß am lahmen Bein ihres Bruders. Sein mit schwarzem Staub bedeckter Fußrücken wirkte wie lackiert. Der Bruder band den Hasen an einen dicken Maisstengel von Gao Mas Feld. Mit seiner Sichel schlug er einen kolbenlosen Maishalm ab, schälte ihn und saugte den süßen Saft heraus.
    Jinjü drehte sich oft nach dem kleinen Hasen um. Jedesmal sah sie, wie er verzweifelte Befreiungsversuche unternahm. Er warf seinen Körper mit aller Kraft nach vorne, als wollte er sich das an den Mais gefesselte Bein ausreißen, um dann auf drei Beinen die Flucht zu ergreifen. Sie ging zu ihm hin, schnitt den Schnürsenkel durch, löste den Knoten und ließ ihn frei. Ihre Blicke verfolgten ihn, wie er hinkend ins Maisfeld hoppelte. Dann sah sie nur noch den Mais. Sie sah ihn voller Kummer. Ihr war, als ob sie sich etwas wünschen sollte, aber sie wußte nicht was. Das Maisfeld schien unergründliche Geheimnisse zu bergen.
    »Schwester, du hast das mitleidsvolle Herz eines Bodhisattva.« Der Ältere Bruder stand neben ihr. »Deine Wohltat wird bestimmt ihren Lohn finden.« Der starke Knoblauchgeruch, der seine Worte begleitete, bereitete ihr Übelkeit.
    Beim Mittagessen war die ganze Familie sehr freundlich zu ihr. Vermutlich hatte der Bruder schon erzählt, was sich am Vormittag auf dem Feld zugetragen hatte. Während der großen Herbstarbeit, wenn sich jeder am liebsten zweigeteilt hätte, war es unmöglich, sie ununterbrochen im Auge zu behalten. Nach dem Mittagessen ging sie zum Brunnen, um Wasser zu holen. Vater und Mutter sahen zu, wie sie die Tragestange mit den zwei Eimern nahm, sagten aber nichts. Sie kam mit zwei vollen Eimern zurück, füllte das Wasser in den großen Tonkrug und machte sich zu einem zweiten Gang auf. Sie hatte das Gefühl, daß man ihr vertraute.
    Sie hatte gehofft, Gao Ma am Brunnen zu treffen, aber sie wurde enttäuscht. Statt dessen grüßten sie dort mehrere Nachbarn, in deren Augen ihr ein eigentümlicher Ausdruck auffiel. Als sie aber ein zweites Mal hinsah, wirkten sie ganz normal, und sie dachte, sie hätte sich vielleicht nur etwas eingebildet.
    Als sie die dritte Traglast Wasser holte, traf sie Frau Yü, die Frau von Gao Mas Nachbar Yü Qiushui. Sie war eine stattliche Frau von über dreißig Jahren mit hoch angesetzten Brüsten, die unter ihrer Jacke bebten. Sie standen einander gegenüber und bückten sich gleichzeitig, um das Wasser zu schöpfen. Frau Yü grüßte sie und sagte: »Gao Ma läßt dich fragen, ob du immer noch fest entschlossen bist.«
    Ihr blieb beinahe das Herz stehen. »Und er?« fragte sie leise.
    »Für ihn hat sich nichts geändert.«
    »Für mich auch nicht.«
    »Dann ist es gut.« Frau Yü sah sich vorsichtig nach allen Seiten um. Dann ließ sie ein zusammengefaltetes Stück Papier vor ihre Füße fallen.
    Jinjü beugte sich über den Brunnen, hob das Papier auf und steckte es in ihre Tasche.
    Am Nachmittag schützte sie Bauchschmerzen vor, um nicht mehr aufs Feld gehen zu müssen. Vater machte ein skeptisches Gesicht. Der Ältere Bruder sagte großmütig: »Dann bleib zu Hause und erhol dich.«
    Sie ging in ihr Zimmer, riegelte die Tür zu und holte den Zettel hervor, um den sich auch während des Essens mit den Eltern all ihre Gedanken gedreht hatten, so daß sie kaum imstande gewesen war, sich am Gespräch zu beteiligen. Jetzt faltete sie das Papier behutsam auseinander. Ihre Hand zitterte. Ihr Atem flog. Sie hatte den Eindruck, daß ein kalter Luftzug durch die Türritzen hereinwehte. Hastig knüllte sie das Papier zusammen und riß die Tür auf. Im Zimmer ihrer Brüder war kein Mensch. Vom Hof her kam ein klopfendes Geräusch. Sie schlich sich ins Wohnzimmer und schaute auf den Hof hinaus. Im schönenden Licht der Herbstsonne stand ihre Mutter und schlug mit einer dunkelroten glatten Holzkeule auf einen Haufen Hirseähren. Auf ihrem Rücken zeichnete sich eine Schweißbahn ab. Die Jacke aus Moskitonetztüll klebte an ihrer Haut und war mit gelben Hirseschalen übersät.
    Schließlich faltete Jinjü die Botschaft auseinander, glättete das Papier und entzifferte eifrig die Schriftzeichen.
    Morgen nachmittag warte ich im Maisfeld auf Dich. Wir laufen zusammen weg.
    Die Worte waren mit Kugelschreiber geschrieben. Schweiß hatte das Papier durchtränkt, und die Schrift war verwischt.
4
    Viele Male trat sie bis an den Rand des Maisfeldes und machte wieder kehrt. Der Herbstwind war frisch. Den reifen Pflanzen entzog der Wind ihre natürliche

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