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Die Knoblauchrevolte

Die Knoblauchrevolte

Titel: Die Knoblauchrevolte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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übriggebliebenen Kloß auf dem grauen Tisch, über den sich nach wie vor die Fliegen hermachten. Schlechten Gewissens fragte sie: »Schwägerin, in meiner Schale habe ich noch ein paar Fettaugen. Das ist zu schade. Kann ich ein bißchen was von deinem Kloß haben, um sie aufzuwischen?«
    Die Gefangene nickte. »Du kannst alles essen, Tante.«
    »Das ist deine Ration, es gehört sich nicht, daß ich sie aufesse.«
    »Ich kriege nichts runter. Iß nur, Tante.«
    »Dann esse ich ihn.« Tante Vier stieg von der Pritsche herunter, trat an den grauen Tisch und nahm den bereits mit Fliegenkot bedeckten Kloß in die Hand: »Schwägerin, halte mich nicht für eine gefräßige Alte, aber so ein feines Essen darf man nicht verkommen lassen.«
    Die Mitgefangene nickte. Aus ihren großen grauen Augen kullerten plötzlich gelbe Tränen.
    »Schwägerin«, sagte Tante Vier, »ich merke, daß dir etwas schwer auf dem Herzen liegt.«
    Die Frau gab keine Antwort, aber die Tränen flossen schneller über ihre Wangen.
    »Nimm es nicht so schwer«, sagte Tante Vier, ebenfalls mit Tränen in den Augen. »Das Leben ist nicht einfach. Manchmal denke ich, es wäre besser, ein Hund zu sein. Ein Hund hat jemand, der ihm sein Futter gibt. Und wenn er kein Futter bekommt, kann er sich noch an Kot satt essen. Er hat ein Fell auf dem Leibe und muß sich nicht um Kleidung kümmern. Der Mensch hat sein ganzes Leben schwer damit zu tun, sich mit Essen und mit Kleidern zu versorgen. Und wenn man alt ist, hat man noch Glück, wenn man artige Kinder hat, die gut geraten sind und einen nicht beschimpfen oder schlagen.« Tante Vier wischte sich die Augen.
    Die Frau drehte sich um und vergrub ihr Gesicht in der Decke. Sie schluchzte laut, ihre Schultern zitterten heftig. Tante Vier erhob sich schwankend und setzte sich zu der Frau auf den Pritschenrand. Sie klopfte ihr mit der Hand auf die Schulter: »Schwägerin, beruhige dich. Mach dir keine Sorgen. Diese Welt ist eigentlich nicht für Menschen wie uns gemacht. Alles ist Schicksal. Schon vor der Geburt ist entschieden, ob du Beamter wirst oder General, Sklavin oder Dienstmädchen. Das ist unabänderlich. Daß wir beide hier zusammenhocken, das hat der Himmelsgott so beschlossen. Und hier geht es uns noch ganz gut. Wir haben eine Pritsche, eine Decke und sogar Essen, das nichts kostet. Nur das Fenster ist zu klein, man bekommt zuwenig Luft. Mach dir keine Sorgen. Wenn du im Leben nicht weiterweißt, dann wirst du eine Möglichkeit zum Sterben finden.«
    Die Frau weinte noch lauter. Die Wache legte das Gesicht an das vergitterte Türfenster und rief ihr zu: »Nummer sechsundvierzig, du darfst nicht weinen.«
    Die Wache klopfte mit der Handfläche gegen die Eisenstangen und wiederholte: »Du darfst nicht weinen. Kannst du nicht hören?«
    Das Weinen der Gefangenen wurde leiser, aber ihre Schultern zuckten immer noch.
    Tante Vier kehrte zu ihrem Lager zurück, zog die Schuhe aus und setzte sich mit gekreuzten Beinen auf die Pritsche. Die Fliegen summten durch die Zelle, mal lauter, mal leiser. In ihrem Hosenbund juckte es. Tante Vier steckte die Hand hinein und zog etwas Kleines, Dickes und Fleischiges heraus. Sie hielt es sich vor die Augen und stellte fest, daß es eine große, weißgraue Laus war. Sie zerquetschte sie mit den Fingernägeln. Tante Vier wußte genau, daß sie zu Hause keine Läuse hatten. Sie vermutete, daß sie aus der Gefängnismatratze kam. Sie hob die graue Decke an, um nachzusehen, und tatsächlich: zwischen den Falten krabbelten haufenweise Läuse umher. Vergnügt rief sie aus: »In der Decke gibt es Läuse.« Die Mitgefangene reagierte nicht. Tante Vier achtete nicht weiter auf sie, zog die Decke heran und konzentrierte sich aufs Läusefangen. Weil es zu mühsam war, die Läuse einzeln mit den Nägeln zu knacken, schob Tante Vier sie sich in den Mund, zerquetschte sie, da sie vorn keine Zähne mehr hatte, mit den Backenzähnen und spuckte sie wieder aus. Die Läuse hatten einen leicht süßen Geschmack, an dem Tante Vier so viel Gefallen fand, daß sie ihren Kummer und ihre Sorgen bald vergaß.
2
    Ein Geräusch schreckte sie auf. Die Mitgefangene erbrach sich. Tante Vier rieb ihre von der Läusesuche ermüdeten Augen und wischte sich die an den Lippen klebenden Läuseschalen ab. Was an ihrem Handrücken haftenblieb, streifte sie an der Wand ab.
    Die Frau hatte trockenes Erbrechen. Sie riß den Mund weit auf, aber es kam nichts heraus. Tante Vier schlüpfte in ihre Schuhe, klopfte der

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