Die Knoblauchrevolte
Schlange. Aber meine Tochter hat keine Zukunft. Sie kann sich mit dir nicht vergleichen.«
»Iß endlich«, sagte die Wärterin. »Wenn du mit Essen fertig bist, mußt du dir genau überlegen, was du verbrochen hast, und ein offenes und ehrliches Geständnis ablegen.«
»Fräulein, was soll ich denn verbrochen haben?«
»Weißt du nicht, weshalb man dich verhaftet hat?«
»Alles, was ich weiß« – Tante Vier verzog erneut das Gesicht und fing zu weinen an –, »ich saß gerade beim Mittagessen, es gab Hirsefladen mit rotem Salzgemüse, da hörte ich, daß jemand draußen meinen Namen rief. Als ich rauskam, wurde ich sofort an den Händen gepackt. Vor Schreck machte ich die Augen zu. Als ich die Augen wieder aufmachte, hatte ich diese glänzenden Fesseln an den Handgelenken. Im Haus schrie meine Tochter. Sie erwartet ein Kind. Ich sage es, auch wenn sie mich auslachen, es ist ein uneheliches Kind. Ich schrie, aber zwei Polizisten schleppten mich weg. Da war noch eine Polizistin, größer als du, aber nicht so hübsch. Auch nicht so nett wie du, sondern richtig bösartig. Sie hat mich mehrmals getreten.«
»Hör auf«, sagte die Wärterin ungeduldig. »Iß endlich.«
»Fräulein, bist du nervös?« fragte Tante Vier. »Ihr vom Sicherheitsdienst habt so viele schlechte Menschen zu fangen, warum verhaftet ihr gerade mich alte Frau?«
»Hast du nicht die Kreisverwaltung verwüstet?« fragte die Wärterin.
»Das soll die Kreisverwaltung gewesen sein?« fragte Tante Vier. »Das wußte ich nicht. Mir ist unrecht geschehen. Mein Mann, er war noch kerngesund und niemals krank, sie haben ihn überfahren, und er ist tot.« Tante Vier weinte laut: »Fräulein, so ein Unrecht …«
»Du darfst nicht weinen«, sagte die Wärterin, »und du darfst nicht Fräulein zu mir sagen. Nenn mich Aufseherin oder Beamtin, wie das alle tun.«
»Die große Schwester hier hat mir schon gesagt« – sie zeigte mit dem Finger auf die Gefangene, die auf der grauen Pritsche gegenüber lag –, »ich soll Beamtin sagen, ich darf nicht Fräulein sagen, aber ich bin alt, mein Gedächtnis ist schlecht, ich vergesse viel.«
»Iß endlich«, befahl die Wärterin.
»Fräu… Beamtin.« Tante Vier wies auf den schwarzglänzenden Kloß und die Knoblauchstengelbrühe. »Dieses Essen, muß ich das bezahlen? Brauche ich Lebensmittelmarken?«
Die Aufseherin wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. »Iß ruhig, es kostet nichts, auch keine Marken. Hast du nichts gegessen, weil du Angst hattest, daß du es bezahlen mußt?«
»Fräulein, du kannst das nicht wissen, aber seit dem Tod meines Mannes haben meine nichtsnutzigen Söhne sich ständig gestritten und das ganze Erbe durchgebracht. Kein Stück Geld ist übriggeblieben.«
Die Wärterin wandte sich zum Gehen. Tante Vier fragte: »Fräulein, hast du schon einen Verlobten gefunden?«
»Nummer siebenundvierzig, jetzt ist Schluß, du verrücktes Weib.«
»Die jungen Frauen von heute«, sagte Tante Vier, »sind alle so leicht erregbar. Sie lassen einen alten Menschen gar nicht zu Wort kommen.«
Die Wärterin knallte die Eisentür zu. Das Klappern ihrer hochhackigen Schuhe entfernte sich.
Von der Decke des Korridors kamen quietschende Geräusche wie von einem alten Wasserrad. Auf den Bäumen im Gefängnishof schrien die Zikaden. Tante Vier seufzte und griff nach dem schwarzen Kloß. Sie hielt ihn sich unter die Nase und schnupperte, dann brach sie ihn entzwei, löste ein Stück heraus, tunkte es in die kalte Knoblauchsuppe, stopfte es sich in den zahnlosen Mund und kaute schmatzend.
Die Frau auf der Pritsche gegenüber wälzte sich herum. Jetzt lag sie mit dem Gesicht nach oben und atmete tief.
»Schwägerin«, fragte Tante Vier, »willst du nicht weiteressen?«
Die Mitgefangene öffnete die stumpfen, ausdruckslosen Augen, schüttelte bitter lächelnd den Kopf und sagte matt: »Mein Herz ist zu schwer. Ich kann nichts essen.«
Die Frau hatte nur einen halben Kloß gegessen. Die andere Hälfte lag noch auf dem niedrigen grauen Tisch. Grüne Schmeißfliegen krochen darauf herum.
Tante Vier aß ihren Kloß und bemerkte: »Der ist aus zu lange gelagertem Weizenmehl gemacht. Er schmeckt schon etwas schimmelig. Aber immer noch besser als Fladen aus Hirsemehl.«
Die Mitgefangene sagte nichts. Ihre starr auf die graue Zimmerdecke gerichteten Augen bewegten sich überhaupt nicht.
Tante Vier aß ihren Kloß auf und leerte die Schale mit der Knoblauchsuppe. Dann fiel ihr Blick auf den
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