Die Knochenfrau
wohl einige Tage tot vor ihrem Bett. Also bevor dann Hilfe kam.”
Lukas schluckte. Die alte Frau hatte so viel durchgemacht ... und jetzt auch noch das. Was für eine Scheiße.
„Wie geht es ihr?”, fragte Lukas.
„Den Umständen entsprechend. Sie war stark dehydriert, aber wir päppeln sie wieder auf. Seelisch hat sie das natürlich sehr mitgenommen.”
„Ja … natürlich”, murmelte Lukas. „Wann kann ich denn vorbeikommen?”
„Also wenn Sie Zeit haben heute Nachmittag gegen 15 Uhr. Ich bin dann noch da und wir können uns kurz über Frau Schneider unterhalten. Ich zeig Ihnen dann auch, wie Sie sich mit ihr verständigen können. Würde Ihnen das passen?”
„Ja-ja, natürlich.”
„Haben Sie gerade etwas zu schreiben? Ich gebe Ihnen die Station durch ...”
Lukas notierte sich die Station und den Namen des Pflegers. Nachdem er aufgelegt hatte, setzte er sich auf sein Sofa, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte eine halbe Stunde lang ins Nichts. Er war tief in Gedanken. Dann hob er seinen rechten Arm und begann, an seinem Daumennagel zu kauen. Das hatte er seit Jahren nicht mehr gemacht. Als er es merkte, da verschränkte er wieder die Arme und saß einfach nur da. Fast eine Stunde lang. Er saß völlig starr. Als seine trockenen Augen anfingen zu schmerzen, da blinzelte er.
*
Kurz nach zwei verließ Lukas seine Einzimmerwohnung. Er nahm die Straßenbahn Richtung Bahnhof, aß dort ein mit Ei, Tomate und Weichkäse belegtes Brötchen, kleckerte sich ein wenig Mayonnaise auf die Hose, wischte das Zeug weg, so gut es eben ging, und lief dann Richtung Klinikum. Er fragte sich zur Intensivstation durch und stand kurz nach drei vor der großen, automatisch öffnenden Metalltür. Man musste klingeln, um hereingelassen zu werden.
Lukas hatte seinen Zeigefinger schon auf dem Klingelknopf, als er ihn wieder zurück zog, ein paar Schritte weg von der großen, hässlichen Tür machte und sich an ein Treppengeländer lehnte. Er wollte nicht dort hinein, er wollte nicht zu Frau Schneider. Sie war Teil seiner Vergangenheit, Teil eines Lebensabschnittes, den er hinter sich gelassen hatte. Nein, er hatte nichts gegen die alte Frau. Überhaupt nichts. Sie und ihr Mann, sie hatten die Familie Kramer akzeptiert. Sie waren bei den wenigen, die nichts gegen „Die Russen” hatten. Sie luden die Neuen zum Essen ein, sie passten sogar auf Lukas und seinen Bruder auf, wenn seine Eltern weg waren. Gut erinnerte er sich an die Kindercola und die immer ein wenig labbrigen Salzstangen, die es bei den Schneiders gab. Sie hatten auch viel mehr Fernsehkanäle. Und Frau Schneider weinte sogar, als die Familie Kramer schließlich aufgab und wegzog, in einen größeren Ort, fünfzig Kilometer entfernt … in einen Ort, in dem ihnen – so hofften sie und so war es dann auch – weniger Ablehnung entgegenschlug. Sie hatte tatsächlich geweint, die Frau Schneider. Sie hatte ihn und seinen Bruder in den Arm genommen und er hatte ihre heißen Tränen an seiner Backe gespürt.
Vielleicht war es, so überlegte Lukas, weil auch die Schneiders Zugezogene waren. Auch welche von denen, die nie richtig dazugehörten. Sie waren irgendwann in den Sechzigern nach Rothenbach gekommen und hatten sich ein kleines, schon damals etwas heruntergekommenes Haus mit Garten gekauft. Wie oft waren er und sein Bruder durch diesen Garten gerannt. Sie waren Nachbarn, der grüne Drahtzaun war an einer Stelle niedergedrückt und man konnte leicht drüber. Die beiden Gärten waren ein großer Spielplatz für sie.
Lukas lehnte an dem Treppengeländer und sah zwei Schwestern hinterher. Die Eine war etwa doppelt so dick wie die Andere. Plötzlich kam es ihm komisch vor, wie unterschiedlich die Menschen doch waren. Das war ja wirklich nur bei Menschen so. Oder gab es auch Elefanten, die doppelt so dick waren wie andere Elefanten? Oder Goldhamster? Nun ja, wahrscheinlich schon. Goldhamster bestimmt. Daniel, Lukas' kleiner und einziger Bruder, hatte früher einen Goldhamster, den er gnadenlos überfütterte. Das Ding sah aus wie ein haariger Ball mit Augen. Wann hatte er seinen Bruder eigentlich zuletzt angerufen?
Lukas schüttelte den Kopf und krallte sich am Treppengeländer fest. Sein Körper war gespannt. Er war bereit, sich abzustoßen und hineinzugehen, hinein zu der gelähmten Frau. Ein beschissener Schlaganfall hatte sie ihrer Bewegungsfähigkeit beraubt. Diese Sache war passiert, als er und seine Familie schon nicht mehr in
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