Die Knochenfrau
Rothenbach wohnten. Keine Vorwarnung, keine Anzeichen. Wie ein grausamer Scherz. Und dann lag sie im Bett und konnte nicht einmal mehr den Kopf drehen.
Als Lukas es hörte, da war er erschüttert. So schnell konnte es also gehen, von einer Sekunde auf die andere. Drei oder vier Wochen lang war er immer wieder kurz davor, zu ihr zu fahren, die beiden zu besuchen. Aber irgendwie schaffte er es nicht, wollte es auch nicht. Was sollte er schon sagen? Und wollten sie ihn überhaupt sehen? Weitere drei oder vier Wochen quälte ihn das schlechte Gewissen. Dann redete er sich damit heraus, dass sie ja nur Nachbarn gewesen seien.
Aber jetzt stand er hier und es war schon Viertel nach drei. Verdammt, Lukas … geh jetzt hinein zu der alten Frau. Wenn sie dich sehen will, dann tu ihr den Gefallen. Es ist die Frau Schneider, die Frau, die früher auf dich aufgepasst hat. Und sie hat 'ne Menge hinter sich.
Lukas ging zu der großen Tür, die in der Zwischenzeit schon mehrmals auf- und wieder zugeschwenkt war, drückte den Klingelknopf und wartete. Nach etwa einer Minute ging die automatische Tür mit einem leisen Summen auf. Im Gang stand ein bärtiger Mann mit Nickelbrille. Er sah aus, als könne er im nächsten Herr der Ringe mitspielen. Fehlte nur der grüne Umhang.
„Zu wem möchten Sie?”
„Zu der Frau Schneider. Mein Name ist Lukas Kramer.”
Der Mann mit dem Bart grinste ihn an.
„Dann haben wir telefoniert. Ich heiße Thomas. Kommen Sie mit, Frau Schneider liegt weiter hinten.”
Lukas folgte ihm schweigend. Als der bärtige Mann in eines der Zimmer bog, da zögerte Lukas, blieb kurz stehen. Er hatte erwartet, der Pfleger würde ihm noch irgendwas sagen … wie er mit Frau Schneider sprechen konnte, wie er mit ihr umgehen sollte, was er zu beachten hatte. Er dachte, er würde ihm irgendwelche Tipps geben oder ihn irgendwie auf das vorbereiten, was ihn da drin erwartete. Aber der Mann war einfach ins Zimmer marschiert und schon hörte Lukas ein „Hallo Frau Schneider, Sie haben Besuch. Der Herr Kramer ist da.” Schnell trat Lukas in den nach Desinfektionsmitteln riechenden Raum.
*
Lukas erschrak, als er sie sah. Nicht, weil sie alt geworden war. Sie sah überhaupt nicht besonders alt aus. Sie hatte nicht einmal viele Falten. Lukas erschrak, weil ihr Gesicht so furchtbar schlaff wirkte ... so teigig, kraftlos, zusammengesunken.
Ja, es war ihr Gesicht. Das war die Frau, neben der er 19 Jahre gewohnt hatte, die ihn zum Abschied in den Arm genommen hatte und deren Tränen er gespürt hatte. Aber sie sah so ... tot aus. Nur ihre Augen bewegten sich. Lukas wusste ja um ihren Zustand. Aber es zu sehen, das war etwas völlig anderes. Das war hart. Er streckte ihr die Hand hin und brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass sie seine Hand nicht nehmen konnte. Er schämte sich und griff nach ihrer Hand. Sie fühlte sich warm und schlaff an. Spürte sie überhaupt seinen Händedruck?
„Hallo Frau Schneider. Ich habe gehört, was mit Ihrem Mann passiert ist. Das tut mir wirklich sehr leid.”
Sie verzog ein wenig das Gesicht. Lukas ahnte, dass es ein Lächeln war. Ihr standen Tränen in den Augen.
„Ich hoffe, dass es Ihnen schon ein bisschen besser geht”, sagte Lukas. Und noch während er das sagte, kam ihm dieser Satz unwahrscheinlich blöd vor. Am liebsten hätte er sich geohrfeigt. Bevor er noch etwas Dummes sagen konnte, schaltete sich der Pfleger ein.
„Herr Kramer. Ich erkläre Ihnen mal, wie Sie sich mit der Frau Schneider verständigen können. Das mit dem Blinzeln kennen Sie ja vielleicht (Nein, Lukas kannte es nicht). Einmal blinzeln heißt „Ja“, zweimal heißt „Nein“. Dreimal heißt „Weiß nicht“ (Jetzt kannte Lukas es). Und dann haben wir noch unsere Buchstabentafel.”
Der Pfleger zog hinter Frau Schneiders Bett ein Holzbrett hervor, auf dem das Alphabet gemalt war. Das Ding hatte in etwa die Größe zweiter A4-Blätter. Die Buchstaben waren in fünf Reihen angeordnet. Darunter standen die Zahlen von 1 bis 9.
A B C D E
F G H I J
K L M N O
P Q R S T
U V W X Y Z
1 2 3 4 5 6 7 8 9
„Ich führe Ihnen das mal vor.”
Der Pfleger stellte das Kopfteil des Bettes hoch und brachte Frau Schneider in eine fast sitzende Position. Dann hielt er ihr das Brett hin und fuhr mit seinem rechten Finger die Reihen ab, langsam von oben nach unten. Frau Schneider blinzelte bei Reihe zwei. Nun fuhr der Pfleger mit seinem Finger Reihe zwei entlang. Frau Schneider blinzelte beim
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