Die Knochenfrau
Hilfe.”
Sie drehte sich um, ihr Blick wanderte nervös zwischen Lukas' zerkratztem Gesicht und einem Punkt irgendwo zwischen Wohnzimmerboden und Lukas' Füßen.
„Tut mir leid, Lukas.” Sie fasste den Türgriff und Lukas schlug seine Faust auf das Sofakissen neben ihm. Staub wirbelte hoch.
„ICH DACHTE, DU BIST POLIZISTIN! DIESES VIEH BRINGT KINDER UM!”
Er sah ihr nicht hinterher. Als sie die Tür hinter sich schloss, befühlte er den Verband an seiner Ferse. Als Nadine auf ihr Fahrrad stieg, da stand Lukas auf und belastete seinen linken Fuß. Es tat weh, aber das war jetzt egal. Lukas zog sich an, nahm seinen Rucksack und verließ das Haus. Der Regen hatte fast aufgehört. Er hinkte durch den Garten und hinein in den Wald.
*
Jetzt war es heller. Nicht richtig hell aber heller. Gut … ganz langsam. Von dieser Seite war er auf das Gebüsch zu gerannt. Und hier hatte er das Vieh zuletzt gesehen, hier war es verschwunden. Lukas ging auf die Knie und sah hinein in das Dickicht. Es tat gut, die verletzte Ferse zu entlasten. Er kroch unter Ästen und Blättern durch – Scheißegal, wenn ich nachher hundert Zecken an mir hängen hab – und glaubte tatsächlich, die Spur eines Tieres zu erkennen. Waren das Abdrücke im vermoderten Laub oder war das seine Einbildung? Er kroch weiter, blieb mit dem Rucksack hängen, riss sich los, und war jetzt in der Mitte des Gebüschs. Plötzlich hörte er ein Knacken und sackte mit dem rechten Knie in den Erdboden. Lukas unterdrückte einen Schrei, stieß sich mit den Händen vom Waldboden ab und rollte sich nach links auf die Seite, weg von dem Loch, das sich gerade aufgetan hatte. „Heilige Scheiße”, murmelte er. Wo war er da eingebrochen? Er sah sich die Mulde im Boden genauer an und erkannte, dass er eine Art Verschluss zerdrückt hatte, eine Art Deckel. Er zog das gebrochene Ding aus dem Loch und es war erstaunlich leicht. Eine Platte von ungefähr vierzig Zentimetern Durchmesser, etwa zehn Zentimeter dick. Auf der Oberseite bestand sie aus vermodertem Laub und Tannennadeln, die irgendwie zusammenklebten. Unten aber hatte das Ding eine weißlich-gelbe Farbe und eine Konsistenz wie … ja genau, wie gebackener Eischaum. Wie dieses Zeug, dass seine Mutter immer auf den Rhabarberkuchen tat … nur viel härter. Irgendwas organisches, irgendwas, das sie gemacht hat. Als Lukas das Zeug anfasste, da wurde es unter seinen Fingern weich und schmierig und ihm stieg ein faulig-süßlicher Geruch in die Nase. Er roch an der gelblichen Unterseite der Platte, aber das war es nicht. Der Geruch kam aus dem Loch, das die Platte verdeckt hatte.
Lukas legte den Deckel weg und wischte sich die Hände an der Jacke ab … nicht dass dieses Zeug giftig war; so wie diese schwarze Masse, über die er mit dem Chemiker gesprochen hatte. Dann leuchtete er mit seiner Taschenlampe in die schmale Öffnung und sah einen engen, senkrechten Schacht, der etwa einen Meter unter ihm einen Knick machte und in die Waagerechte überging. Wieder stieg ihm der faulige Geruch in die Nase und Lukas drehte den Kopf weg. Er hörte sein Herz pochen und bekam nicht genug Speichel zusammen, um seinen Mund zu befeuchten. Seine Zunge fühlte sich an, als wäre sie auf die doppelte Größe geschwollen und außerdem mit Schleifpapier überzogen. Lukas beugte sich nach vorne und berührte mit der Linken eine Wand des Schachtes. Sie war feucht, glitschig und fest, er konnte nicht einmal einen Finger in die verdichtete Erde drücken. Hier war kein Durchkommen, seine Beine und seinen Arsch würde er hinein bekommen, spätestens die Schultern aber waren zu breit. Und stecken bleiben wollte er unter keinen Umständen.
Lukas stöhnte auf und zog den gebrochenen Deckel heran. Aus was zum Teufel besteht dieses Ding? Aus Speichel? Es gibt doch Insekten, die solche Dinger aus irgendwelchen Körpersekreten bauen. Hab ich es mit irgendeinem scheiß Insekt zu tun? Er legte den Deckel so gut es ging über die Öffnung. Er drückte dagegen und der Verschluss war zumindest halbwegs stabil. Dann legte er seinen Rucksack auf den Deckel und obendrauf die Taschenlampe. Er merkte sich die Richtung, in die die Lampe zeigte und kroch aus dem Gebüsch. So schnell er konnte rannte Lukas zum Haus der Schneiders zurück, den Schmerz in seinem linken Fuß ignorierte er. Als er über den Gartenzaun kletterte, sah er aus dem Augenwinkel den Typen mit dem Brötchengesicht. Er wirkte erschrocken und verschwand im Haus, als er Lukas sah.
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