Die Knochenfrau
du irgendwas siehst, dann schrei.”
Lukas rannte mit dem Messer in der Rechten und der Taschenlampe in der Linken um das Gestrüpp herum und drückte sich von der anderen Seite in das Dickicht hinein. Er spürte die Stiche von Dornen, versank mit den Füßen im aufgeweichten Boden und musste auf alle viere gehen. Und er sah: Nichts. Nichts als Holz und Blätter. Er schob Äste zur Seite, robbte voran, sah Nadines Beine, kämpfte sich weiter, ignorierte den Schmerz, und als er auf Nadines Seite zerkratzt und verdreckt herauskam, da fing er leise an zu weinen … es kam einfach über ihn. Er hatte seit Jahren nicht mehr geweint. Nadine zögerte, dann nahm sie ihn in den Arm und küsste seine blutig gekratzten Wangen.
15. Der Geschmack von Erde und Metall
„Ich bin mir sicher, dass ich sie gesehen habe. Sie ist vor mir weggerannt, in dieses Gebüsch hier hinein. Wir können jetzt nicht weggehen.”
„Lukas, du blutest. Du hast eine Verletzung am Bein … außerdem sind wir beide völlig durchnässt.”
„Nadine, bitte, ich flehe dich an! Bitte geh zurück zum Haus und hol mein Handy, das steckt in meiner Jacke. Hol einfach die Jacke und … und Schuhe und meine Hose. Ich muss jetzt hier bleiben.”
Nadine ließ seine Hand los und rannte in Richtung des Hauses. Lukas ignorierte seine Schmerzen und schlich um das Gebüsch herum. Vielleicht saß dieses dürre Vieh ja doch noch irgendwo zwischen den Blättern und Zweigen. Die Zeit war auf Lukas' Seite. Richtig hell würde es bei diesem beschissenen Wetter nicht werden … aber es wurde doch immer heller. Er leuchtete mit der Taschenlampe in das Gestrüpp, sah aber nur grelle Lichtflecken und dunkle Schatten. Immer noch regnete es. Lukas merkte, dass er vor Kälte zitterte und auch das verdammte Seitenstechen war noch da. Spontan beschloss er, mit dem Rauchen aufzuhören. Nach zwanzig Minuten hörte er Nadines Rufe. Er rief zurück und sie fand ihn. Sie brachte seine Jacke mit dem Handy, zwei Regenschirme und trockene Klamotten in einer Plastiktüte. Lukas zog sich an, ohne das Gestrüpp aus den Augen zu lassen. Er schlüpfte in seine Stiefel und stapfte sofort wieder hinein in das Gewirr. Nadine sah ihm hinterher und wusste nicht, ob sie ihm helfen oder vor ihm fliehen sollte.
Weitere zehn Minuten später war sich Lukas sicher, dass in diesem Gestrüpp nichts war. Er kämpfte sich heraus und stand zitternd vor Nadine. Mit seinem Handy bestimmte er die Koordinaten dieses Ortes mitten im Wald und speicherte sie ab. Es dauerte einige Minuten, der Empfang war schlecht und mehrmals vertippte er sich. Beinahe hätte Lukas das Scheißding gegen einen Baum geworfen.
Auf dem Weg zurück zum Haus wurde ihm schlecht und er dachte, er müsse sich übergeben. Nadine schaute immer wieder zu ihm herüber. Sie hatte Angst, er würde gleich zusammenbrechen.
Lukas hatte einen langen und blutigen, allerdings nicht sehr tiefen Kratzer am rechten Schienbein. Außerdem eine zwei Zentimeter lange und einen Zentimeter tiefe Schnittwunde an der linken Ferse und zahllose kleinere Verletzungen im Gesicht, am Hals und an den Armen. Nadine hatte im Badezimmer einen alten Verbandskasten gefunden und Lukas hatte behauptet, dass Kompressen und Bandagen kein Verfallsdatum haben. Als Nadine seine Wunden versorgt hatte, da zog sie sich an.
„Sag bloß, du willst jetzt gehen?”
„Ich hab Familie, Lukas.”
„Nadine, bitte, du musst mir jetzt helfen. Komm bitte noch einmal mit mir in den Wald. Wir schauen uns zusammen die Stelle an, wo das Vieh verschwunden ist.”
Sie antwortete zögernd, schien noch zu überlegen, während sie schon sprach.
„Ich weiß nicht, was ich von dem allen halten soll. Ich hab gestern Nacht nichts gesehen, ich hab nur mitgekriegt, wie du völlig ausgetickt bist. Tut mir leid.”
„DANN HAU DOCH VERDAMMT NOCHMAL AB!” Und dann leise, in bittendem Tonfall: „Tut mir leid, tut mir leid. Bitte bleib noch eine Stunde, eine verdammte Stunde. Und geh noch einmal mit mir raus, vielleicht finden wir ja doch noch irgendwas.”
„Tut mir leid, Lukas. Ich muss die Kinder abholen. Und ich muss mir was überlegen, was ich meinem Mann erzähle. Das heute Nacht war sehr schön mit dir, aber jetzt machst du mir Angst.”
Sie sagte es, drehte sich um und ging in Richtung Haustür.
„Nadine, ich bin nicht verrückt und es gibt überhaupt keinen Grund, vor mir Angst zu haben. Ich hab das Ding wirklich gesehen, ich bin mir absolut sicher. Ich brauche jetzt deine
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