Die Knochenfrau
einfach hinein in das, was er sah. Als Lukas mit ihr hätte zusammenstoßen müssen, da war die Frau verschwunden, wie nie da gewesen. Er rannte ins Wohnzimmer und das Pflegebett war leer. Er stolperte zurück in den Flur, warf sich den Rucksack über, packte den Schlüsselbund und während er mit zittrigen Fingern versuchte, die Haustür aufzuschließen, brüllte er aus Leibeskräften: „NADINE! SCHEISSE NADINE! KOMM RUNTER! DAS VIEH IST HIER IRGENDWO!“
Er konnte nicht auf sie warten. Als er die Haustür offen hatte, da stürmte er barfuß hinaus in den Regen.
*
Als Nadine gerade die Beine aus dem Bett hatte, da war Lukas schon um das Haus herum. Er rannte auf den Waldrand zu, spürte den Regen auf seiner Haut und den feuchten, schwammigen Rasen unter seinen Füßen. Als Nadine gerade aufgestanden war, da sah Lukas etwas. Da war tatsächlich etwas! Ein dürres, gebückt stehendes Wesen, direkt am Waldrand. Lukas rannte drauf zu, wenn es doch nur ein wenig heller wäre! Er sprang mit einem Satz über den Drahtzaun, verletzte sich am nackten Unterschenkel, rannte zu der Stelle, an der er dieses dürre Wesen gesehen hatte und sah: Nichts. Da war nichts mehr. Und der beschissene Regen übertönte jedes verdammte Geräusch. Lukas blieb stehen und dann – er wusste nicht, wieso er es tat – rannte er in Richtung des Pfades, auf dem es vor Jahrzehnten die Tochter der Schneiders erwischt hatte. Er rannte einfach los, einfach hinein in den Wald. Das war seine Chance, seine fette Chance. Im Rucksack hatte er das Küchenmesser aber da kam er jetzt nicht ran. Er konnte nicht anhalten und den Rucksack abnehmen. Er würde sich mit bloßen Händen auf dieses Ungeheuer stürzen, wenn er es denn fand. Er würde es erwürgen, totschlagen, totbeißen … scheißegal! Er musste es nur … Da! Da hinten! Zwischen den Bäumen! Da hatte sich etwas bewegt. Lukas änderte die Richtung, rannte auf die Stelle zu.
Als Nadine gerade ihren Slip und ihr Shirt angezogen hatte, da sah er es ganz deutlich, im Halbdunkel zwischen den Bäumen. Es rannte vor ihm davon, auf allen vieren. Aber es rannte nicht wie ein Tier, nicht wie ein Fuchs oder ein Hund. Es rannte wie ein Wesen, dass eigentlich auf zwei Beinen läuft und nur zum Rennen auf alle viere geht, staksig und ungelenk … aber schnell. Lukas trat auf etwas Spitzes und spürte, wie es in seinen Fuß eindrang. Scheißegal! Er behielt sein Tempo bei. Er bekam Seitenstechen und ignorierte den Schmerz. Jetzt war er auf zwanzig Meter heran. Deutlich erkannte er im Halbdunkel die Umrisse des Wesens, das vor ihm davonlief. Und dann – ganz plötzlich – war es weg. Es verschwand in einer graubraunen Wand aus dichtem Gestrüpp. Lukas rannte darauf zu, erkannte aber, dass es aussichtslos war, sich durch dieses Dickicht zu kämpfen. Scheiße! Scheiße! Scheiße! Er durfte jetzt nicht aufgeben, das war seine Chance, ihm rauschte das Blut im Kopf und er wollte kämpfen, verletzen, töten. Geduckt starrte Lukas in das Gestrüpp und glaubte, eine Bewegung zu sehen. Er rannte seitlich um das Dickicht herum und lachte laut auf, als er erkannte, dass dieses Pflanzengewirr nur ein Kreis von ungefähr sieben Metern Durchmesser war. Und irgendwo da drin steckte dieses Biest jetzt fest … wenn es ihn nicht überlistet und auf der anderen Seite wieder herausgekommen war, während er in das Dickicht geglotzt hatte. Lukas lief dreimal um den Flecken herum, starrte von allen Seiten hinein, starrte auch in den Wald, sah aber nichts. Auf einmal hörte er jemanden seinen Namen rufen, leise und weit entfernt.
„Lukas … Lukas.”
Es war die Stimme von Nadine.
„HIER”, brüllte Lukas. „KOMM HER, KOMM SCHNELL HER!”
Es dauerte fast zehn Minuten, bis sie ihn gefunden hatte. Als sie vor ihm stand, da packte er sie hart an der Schulter.
„Scheiße, was soll das?”
„Ich muss sehen, ob du echt bist.”
„Bist du jetzt total bescheuert? Was zum Teufel treibst du hier draußen?”
„Nadine, hör mir zu. Ich habe dieses Vieh gesehen. Es ist wahrscheinlich hier irgendwo in diesem Gestrüpp. Stell dich hier hin und bleib bitte hier stehen … ich bitte dich! Ich geh von der anderen Seite hinein in das Gebüsch. Hast du eine Waffe?”
„Nein, natürlich nicht.”
„Egal, bleib einfach hier stehen. Ich bitte dich!”
Lukas warf seinen Rucksack auf den Boden und kramte die Taschenlampe und das Küchenmesser heraus.
„Lukas, ich-”
„Bitte Nadine, vertrau mir. Bleib hier stehen und wenn
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