Die Knochenkammer
Humor nicht beirren. Sie hatte eine Geschichte zu erzählen und war fest entschlossen, sich nicht davon abbringen zu lassen. »Diejenigen, die wirklich etwas ins Rollen brachten, waren die Indianer. Während Robert Peary und seine Helfer mein Volk studierten, taten Anthropologen das Gleiche mit den Indianern des amerikanischen Westens. Sie sammelten nicht nur ihre Artefakte und Werkzeuge, sondern exhumierten auch Schädel und brachten sie an die Ostküste, damit man sie dort studieren konnte.«
»Was ist mit ihnen geschehen?«
»Bis vor zehn Jahren befanden sich die Überreste in den Sammlungen von mehr als siebenhundert Museen im ganzen Land. Auch heute noch sind die Gebeine von mehr als zweihunderttausend amerikanischen Indianern in Holzkisten und Kommoden in diesen Institutionen verstaut. Aber Ihre Indianer hatten meinen Eskimos etwas voraus - sie waren zahlreicher, und sie hatten die Fähigkeit, sich zu organisieren.«
»Was haben sie getan?«
»Sie haben demonstriert, sich engagiert und dafür gekämpft, dass neue Gesetze erlassen wurden.«
»Gesetze?«
»Das Gesetz zum Schutz indianischer Grabstätten und zur Repatriierung aus dem Jahr 1990. Ich vermute mal, Mike, dass Sie auch darüber Bescheid wissen würden, wenn man die Gehirne Ihrer Vorfahren gewürfelt und studiert hätte.«
»Da hätte man nicht viel gefunden, Madam. Gut konserviert in Alkohol, aber ansonsten dichte Hirnsubstanz unter einem Dickschädel.«
»Sie wollen doch damit nicht sagen, dass jedes Skelett zu einem Stamm zurückverfolgt werden kann?«, fragte Mercer.
»Nein, nein. Das ist eines der größten Probleme. Einige dieser Museumssammlungen sind Hunderte von Jahren alt und werden sich nie zu einem Stamm oder einer Kultur zurückverfolgen lassen.«
Mike war noch immer bei den Eskimos. »Also wenn dieses Gesetz 1990 erlassen wurde, wie kommt es dann, dass Ihre Leute - Qisuk und die anderen - erst Jahre später nach Hause kamen?«
»Die Gesetzgebung bezog sich nur auf US-amerikanische Indianer. Museen waren verpflichtet, alle indianischen Gebeine zu repatriieren, um die ein Stamm ersuchte, aber das half meinen Eskimos nicht im Geringsten.«
»Und was kümmerte das Katrina?«
»Ihr Spezialgebiet war Grabkunst, Mike. Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde sie mit der Realität konfrontiert, wie sie sich für die meisten farbigen Völker auf der Welt darstellt. Keine Friedhöfe, keine Grabsteine, keine Gräber mit Gedenktafeln. Unsere Vorfahren liegen in Pappkartons und verstauben auf Museumsregalen.«
»Im Namen der Wissenschaft.«
»Ich habe ihr mit meinen Geschichten zugesetzt. Wie konnte sie so blind sein? Denken Sie an die Situation in Südafrika, wo sie aufgewachsen war. Ich erzählte ihr Miniks Geschichte, und sie war fasziniert davon. Ich erzählte ihr, wie meine eigene Urgroßmutter in einem Fass in die Vereinigten Staaten geschifft wurde. Das regte sie auf. Dann beschäftigte sie sich mit den amerikanischen Indianern. Ich musste ihr förmlich mit dem Hammer auf den Kopf schlagen, bevor sie so weit war, ihr eigenes Land zu verstehen.«
»Die Skelette, die man dort fand?«
»»Fand? Hey, Mike, ich rede nicht über Pithecanthropus erectus und das fehlende Bindeglied. Diese Affenmenschen liefen vor Tausenden von Jahren auf der Erde herum. Deren Überreste hat man gefunden. Die, von denen ich rede, die Gebeine meiner eigenen Verwandten, wurden gestohlen.«
Mercer stand hinter Mike und legte seine riesigen Hände um Mikes Stirn. »Sein Schädel ist nicht ganz so flach, wie Sie vielleicht denken, Clem. Er ist nur undurchlässig.«
Mike war skeptisch zu hören, dass Clem die menschlichen Überreste als gestohlen bezeichnete. »Das müssen Sie mir erklären! Die Geschichte Ihrer Eskimos ist sehr ungewöhnlich. Nicht alle Gebeine sind so in die Sammlungen gekommen.«
»Vielleicht wollen Sie das nicht hören, aber meine Kollegen und ich haben alle Dokumente, um es zu beweisen.«
Clem brauchte kein Notizbuch, um die Fakten zu zitieren.
»Ich erzählte Katrina, was überall in Afrika geschehen war. Neunzehnhundertneun wurde ein Schwarzer namens Kouw vier Monate nach seinem Tod zerstückelt und gekocht. Seine Witwe und Kinder sahen heulend und wehklagend zu, aber die Wissenschaftler gewannen. Ab ins Museum mit ihm. Eine berühmte Anthropologin beschreibt in ihrem Tagebuch, wie sie bei einer kränkelnden Frau bis zu ihrem Tod im Jahr 1940 Wache hielt und darauf wartete, dass sie von ihrem Stamm beerdigt wurde. Dann exhumierte sie
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