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Die Knochenkammer

Titel: Die Knochenkammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
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Glasscheibe obendrauf, sodass das Skelett nach wie vor sichtbar war. Sie stellten sie oben in den Werkraum, wo auch andere Skelettmodelle zusammengebaut wurden.«
    »Aber hat man Minik das Skelett seines Vaters zurückgegeben?«
    »Zu der Zeit gab es schon einen neuen Präsidenten, einen Zoologen namens Carey Bumpus. Seine Sichtweise? Wir haben hier Hunderte von Skeletten. Wie, zum Teufel, soll ich wissen, welche Gebeine die deines Vaters sind?«
    »Und Minik?«
    »Er hatte kein einfaches Leben. Er fühlte sich nie richtig wohl in Amerika. Als er fast zwanzig war, brachte er endlich einige Arktisforscher dazu, ihn in seine Heimat mitzunehmen.«
    »Kannte ihn dort noch jemand?«
    Clem lächelte mich an. »In einem winzigen Ort, zwölf Jahre nachdem die Weißen sechs Stammesmitglieder mitgenommen hatten? Natürlich. Diese Menschen hatten keine Schriftsprache, nur mündliche Überlieferung. Aber die Geschichte von Qisuk und Minik war viele Male erzählt worden. Außerdem hatte er noch immer Tanten und Cousins dort. In gewisser Hinsicht ging es ihm danach schlechter.«
    »Warum?«
    »Er war wie ein Mensch ohne Heimat. Jetzt konnte er die Eskimosprache nicht mehr sprechen.«
    »Ist er geblieben?«
    »Nicht lange. Er fühlte sich dort genauso einsam wie in New York City. Er ging zurück nach Amerika und trieb sich in Neuengland herum, bis er sich schließlich in einer kleinen Stadt in New Hampshire niederließ, wo er eine Anstellung in einem Sägewerk fand. Aber sie war nur von kurzer Dauer. Minik starb noch vor seinem dreißigsten Lebensjahr an der Spanischen Grippe, die damals im ganzen Land grassierte.«
    Ich blätterte in Clems Sammlung von Dokumenten und Zeitungsausschnitten und besah mir die Fotos des jungen Mannes, der zeit seines Lebens ein Außenseiter geblieben war. Da waren Bilder von ihm als Kind, auf denen seine samtbraunen Augen noch freudige Hoffnung ausdrückten, aber weitaus zahlreicher waren die Fotos, auf denen der Heranwachsende und junge Mann traurig dreinblickte, so wie jemand, der resigniert hat unter seiner Isolation zu leiden schien.
    »Konnte er vor seinem Tod dafür sorgen, dass der Leichnam seines Vaters mit ihm zurück in seine Heimat gebracht wurde?«
    »Nie. Es war ein weiteres Versprechen, das gebrochen wurde.«
    Ich zögerte, die Frage zu stellen. »Ist denn mittlerweile Qisuks -?« Ich verstummte, weil ich mir nicht sicher war, wie ich die sterblichen Überreste bezeichnen sollte. Es war sicherlich kein intakter Leichnam mehr.
    »Inventarnummer 99 / 3610 des Naturkundemuseums? Mehr war Qisuk nicht für die Museumsoberen.«
    Der tote Mann trug die gleiche Art Identifikationsschildchen wie ein ausgestopfter Elch oder prähistorischer Fisch.
    Clem fuhr fort: »Aber 1993, über hundert Jahre, nachdem die sechs Eskimos ihre Heimat verlassen hatten, wurden ihre Gebeine zur Bestattung nach Grönland zurückgebracht. In ein Dorf namens Qaanaaq. Habe ich Ihnen gesagt, dass mein Vater dort geboren wurde?«
    »Ja, haben Sie.«
    »Meine Familie war damals, Anfang August, bei den Begräbnissen mit dabei. Ich studierte zu der Zeit in London und war gerade zu Besuch, und wir waren in den Norden gefahren, um meinen Großvater zu besuchen. Damals hatte ich noch Bibliothekswesen studiert. Als ich von der Geschichte dieser Vorfahren und der Odyssee von Qisuks Gebeinen hörte, beschloss ich, mein Studienfach zu wechseln und Anthropologin zu werden.«
    »Sind Sie bei der Zeremonie dabei gewesen?«
    »O ja. Eine sehr traditionelle Zeremonie. Wirklich sehr ergreifend. Sie wurden auf einem Hügel nahe am Wasser beerdigt, mit einem Steinhaufen auf dem Grab. Und einer Gedenktafel mit der einfachen Inschrift:
    SIE SIND NACH HAUSE GEKOMMEN.«
    Sie hielt inne und schloss die Augen, als würde sie sich an das Begräbnis erinnern.
    »Und Sie denken«, fragte Mike, »dass diese Geschichte tatsächlich etwas mit dem Mord an Katrina Grooten zu tun hat?«
    »Absolut.«
    »Warum?«
    Für Clementine schien es offensichtlich zu sein. »Als Katrina anfing, am Naturkundemuseum an der gemeinsamen Ausstellung zu arbeiten, war sie überrascht, wie viele Skelette dort waren. Sie hatte nie darüber nachgedacht, woher sie stammten.«
    Ich auch nicht. Ich war immer davon ausgegangen, dass sie Tausende von Jahren alt waren, Knochen, die man in abgelegenen Wüstenregionen, verlassenen Höhlen oder bei archäologischen Ausgrabungen gefunden hatte.
    »Sie hat wohl nie Familie Feuerstein gesehen«, sagte Mike.
    Clem ließ sich von Mikes

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