Die Knochenkammer
Er hatte ja keine Ahnung, dass man ihn studierte. Immer wenn Peary mit etwas aus Grönland zurückkam, sei es eine Schneeeule oder Kostüme und Waffen der Eskimos, konnte Minik sie den Museumsmitarbeitern erklären. Er war der Liebling vieler Angestellter. Bis zu dem Tag, an dem er eine schreckliche Entdeckung machte.«
»Im Museum?«
»Ja. Er war damals fast achtzehn Jahre alt. Minik durfte mittlerweile durch die riesigen Hallen des Museums spazieren und sich die Ausstellungen ansehen, die er zuvor nicht hatte besichtigen dürfen.«
Clem stand auf, legte beide Hände vor den Mund und streckte sie dann vor sich aus.
»Er wanderte durch die Ausstellungen und sah Tiere, von denen er nicht einmal wusste, dass es sie gab, afrikanische Wohnsiedlungen, Echsen von tropischen Südseeinseln und Fische, von denen die meisten in seinen Schulbüchern nicht einmal abgebildet waren.«
Ich wollte hören, dass das Zeichen, das er am Grab seines Vaters hinterlassen hatte, Minik davor schützte, den Rest seines Lebens von diesem rastlosen Geist verfolgt zu werden.
Clem hatte eine Hand weit von sich gestreckt, die andere auf dem Herzen. »Und dann kam er in Raum Nummer drei. Dort musste er Heimweh bekommen haben. Dort waren Kajaks, Schlitten, die von ausgestopften Jagdhunden gezogen wurden, primitive Utensilien von Pearys Reisen und schließlich eine große Vitrine mit der Aufschrift Ausstellungsstück Nummer fünf. Polareskimo namens Qisuk<.«
Kaum vorzustellen, wie traumatisiert der Junge gewesen sein musste, wie verraten er sich gefühlt haben musste, wo er doch der Meinung gewesen war, dass man seinen Vater wie die legendären Krieger seines Heimatlandes behandelt hatte!
»Minik stand vor dem präparierten Skelett seines Vaters, das in einer Glasvitrine im Museum aufgehängt worden war.«
»Der junge Mann fiel auf die Knie und weinte.«
»Wie konnte so etwas überhaupt passieren? Wie konnten sie das Kind auf diese Weise täuschen?«
Mike versuchte, die Anspannung zu lösen. »Er kann von Glück reden, dass sie seinen Vater nicht ausgestopft haben.«
Clems Blick war absolut ernst. »So wie Minik die Geschichte erzählt hat, war er sich nie sicher, was das anging. Neben dem Skelett war ein lebensgroßer Abguss von Qisuk.«
»Was ist das?«
»Das Museum hat eine ganze Sammlung davon in der anthropologischen Abteilung. Die Arbeiter fertigten Gussformen, indem sie Paraffin auf das Gesicht des Toten auftrugen - manchmal auf den gesamten Körper. Absolut lebensecht. Minik sah auf und sah das melancholische Gesicht seines geliebten Vaters. Er war sich sicher, dass sie ihn gehäutet und konserviert hatten, genau wie ein Tier.«
»Da hatte er Unrecht, oder?«, fragte ich.
»Versuchen Sie mal, die Unterlagen zu finden und eine ehrliche Aussage zu bekommen. Franz Boas, der große Anthropologe, führte ein Tagebuch; er hielt - wohlgemerkt - die ganze Charade für absolut angemessen. In seinen Schriften behauptete er, dass die Museumsfunktionäre das falsche Begräbnis arrangiert hatten, damit der Junge nicht denken würde, die Wissenschaftler hätten den Körper seines Vaters auseinander gepflückt.«
»Was war tatsächlich unter den Tierhäuten gewesen, in der Nacht, in der man Qisuks Beerdigung inszeniert hatte?«
»Ein Baumstamm. Ein Stück Holz von der Größe eines Menschen.«
»Aber -«
»Falls Sie glauben, dass ich mir das alles ausdenke, Alex«, sagte Clem und tätschelte ein Notizbuch, das sie mitgebracht und neben ihr Glas auf den Tisch gelegt hatte, »hier sind Zeitungsausschnitte, die die ganze Geschichte belegen. Der Kampf um Qisuks Leiche -«
»Kampf? Zwischen wem?«
»Er starb im Bellevue Hospital. Die Ärzte dort wollten eine Autopsie durchführen, aber das Museum beanspruchte dasselbe Privileg für sich.«
»Gab es einen Sieger?«
»Die beiden Institutionen erzielten eine Einigung. Der arme Kerl sollte am Bellevue Hospital seziert werden, und danach hatte das Museum die Erlaubnis, das Skelett zu konservieren. Berühmte Phrenologen inspizierten sein Gehirn und vermaßen seinen Schädel.«
»Warum den Schädel?«
»Man dachte, dass das niedrige kulturelle Niveau primitiver Völker ein Grund für ihre Fliehstirn sei. Nicht genug Platz, um sich geistig zu entwickeln. Das war Teil des Rassismus, der den damaligen anthropologischen Theorien zu Eigen war.«
»Was gab’s dann zu studieren?«, fragte Chapman.
»Ich zögere, die Wissenschaftler Eiferer zu nennen. Immerhin waren das die gängigen
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