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Die Knochenkammer

Titel: Die Knochenkammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
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Glaubenssätze in Europa und Amerika im neunzehnten Jahrhundert. Sie waren fasziniert von den Eskimos, Mike. Wie konnte dieser ungebildete kleine Nomadenstamm unter diesen ungünstigen klimatischen Bedingungen gedeihen? Das war eine wissenschaftliche Untersuchung wert, nicht wahr?«
    Clem sah Mercer an. Sie wusste, dass er diesen Vortrag über die Engstirnigkeit der Gesellschaft einschließlich der gebildeten Wissenschaftlerzunft nicht nötig hatte. »Die Weltausstellung in St. Louis, 1904. Je davon gehört?«
    »Judy Garland, Leon Ames, Mary Astor, Margaret O’Brien«, gab Mike wie aus der Pistole geschossen zurück.
    »Meet me in St. Louis, Louis. Zing, zing, zing went my heartstrings.«
    »Das ist die charmante Seite. Während Judy sich in der Straßenbahn verliebte, war Qisuks Gehirn eins der bizarreren Ausstellungsobjekte. Als Leihgabe des Museums.«
    »Und Minik wuchs auf, ohne irgendetwas darüber zu wissen? Er wusste nicht, dass man das Gehirn seines Vaters zu einer Weltausstellung verschifft hatte? Es kann doch nicht sein, dass Wallace an dieser grausamen Farce teilnahm, während der Junge unter seinem Dach wohnte?«
    »Sie werden nie im Leben erraten, was Miniks Adoptivvater als Nebenjob auf seiner Farm Upstate New York machte.«
    »Da wissen Sie mehr als wir.«
    Clem setzte sich auf die Sofalehne, blätterte in vergilbten Zeitungsausschnitten und zeigte mir Bilder des jungen Minik mit seiner Adoptivfamilie auf der Farm in Cold Spring.
    »Haben Sie schon mal von einer Einstampfmaschine gehört?«
    Keiner von uns antwortete.
    »Sie fungiert auch als Knochenbleicher.«
    Mich fröstelte unwillkürlich, als ich daran dachte, wie uns Zimm letzte Woche - einhundert Jahre später - die neue Entfettungsmaschine des Museums beschrieben hatte.
    »Hinter dem Haus war ein Fluss, also überredete Mr. Wallace das Museum, ihn dort seine Arbeit tun zu lassen. Eine billige Methode, um die Tierexemplare zu reinigen. Er legte einfach die Kadaver in das fließende Quellwasser, bis sie auf natürlichem Wege gewaschen und gebleicht waren.«
    »Und Qisuk?«
    »Mr. Wallace war persönlich für das Bleichen der Gebeine des Eskimos verantwortlich, damit die Anthropologen das Skelett präparieren konnten. Er tat es auf seinem Grundstück, während Minik unter seinem Dach wohnte und auf der alten Farm lebte.«
    »Unvorstellbar!«
    »Obendrein verlor William Wallace seine Stelle am Museum. Es hatte nichts mit Qisuks falscher Beerdigung zu tun, die alle Funktionäre für richtig hielten, sondern mit finanziellen Unregelmäßigkeiten. Er hatte dem Museum Arbeiten an Tieren in Rechnung gestellt, die er in Wirklichkeit für Zirkusse und Zoos gemacht hatte. Er schickte dem Kuratorium eine Rechnung über einen Elefanten, den er für eine Zirkustruppe gebleicht hatte, die im alten Madison Square Garden auftrat.«
    »Wer hat Minik denn dann unterstützt? Der Museumspräsident? Oder Robert Peary?«
    Clem lachte. »Peary interessierte sich schon lange nicht mehr für seine Eskimos.«
    »Und der Museumspräsident? Hat er den Jungen auch einfach im Stich gelassen?«
    »So ziemlich. Auch Morris Jessup ließ seinen Worten nicht gerade Taten folgen. Als er 1908 starb, schätzte man sein Vermögen auf dreizehn Millionen Dollar. Er hinterließ dem Jungen nicht einen Nickel in seinem Testament.«
    »Was hat der Junge getan?«
    »Minik? Er war noch immer minderjährig, aber er begann die Schlacht, die er sein Leben lang kämpfen würde.«
    »Die Schlacht? Gegen wen?«
    »Das Museum, die Verwaltung, das Kuratorium.« Clem befeuchtete ihre Finger und blätterte in den Plastikfolien in ihrem Ordner. Als sie den Zeitungsartikel gefunden hatte, den sie suchte, drehte sie den Ordner um, sodass ich die Schlagzeile sehen konnte.
    Ich las laut aus der Ausgabe der World vom 6. Januar 1907, in der eine Zeichnung war, auf der Minik vor der beeindruckenden Fassade des Museums kniete und flehte: GEBT MIR DIE LEICHE MEINES VATERS!
    »Alles, was der Junge wollte«, sagte Clem, »war, die sterblichen Überreste seines Vaters nach Grönland zu schaffen und sie dort anständig zu beerdigen. Zusammen mit seinem Kajak und seinen Jagdwaffen.«
    »Was hat das Museum getan?«
    »Nicht, was Sie vielleicht denken. Sie gaben ihm nichts. Aber es bedurfte schon damals nur eines kleinen Presserummels, damit sie die Vitrine aus der Ausstellung entfernten.«
    »Was geschah damit?«
    »Sie haben Qisuk in einen Sarg gelegt, falls man es so nennen kann. Eine große Holzkiste mit einer

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