Die Knochenkammer
hob mein Kinn, sodass ich zum Dachsims hinaufsah.
»1964. Murph the Surf aus Miami Beach kletterte auf dieses alte Granitgebäude und ließ sich durch genau dieses Loch da oben herab, um den Stern von Indien zu stehlen - J.P. Morgans Saphir. So groß wie ein Golfball, Kleines. Es war eine warme Nacht, das Alarmsystem war deaktiviert, und das Fenster stand weit offen. Er hat das Glas einfach mit einem Klauenhammer zerschlagen, und die Wächter haben nicht einmal gemerkt, dass er da war. Wahrscheinlich waren es dieselben Penner, die noch heute hier arbeiten. Mein Paps hat damals in der Sache ermittelt. Du schuldest mir zweitausend -«
Ich hörte Schritte im Flur. Mike trat aus der Nische und streckte seinen Arm aus, um Mercer und seine Begleiterin aufzuhalten. Ich erkannte Kerry Schrager vom Dezernat der Bezirksstaatsanwaltschaft, die vor kurzem für das Geiselkommando ausgebildet worden war.
»Beweg dich nicht vom Fleck! Ich wird’s ihnen erklären.«
Mike war kaum gegangen, da glaubte ich, in dem kleinen Raum etwas rascheln zu hören. Ich lauschte auf Stimmen, konnte aber nichts hören.
Innerhalb weniger Minuten kamen Mike, Mercer und Kerry zurück.
»Wir machen es folgendermaßen«, sagte Mercer. »Nice and easy. Kerry und ich -«
Mike war ungeduldig. »Tina Turner, >Proud Mary<. Bei mir geht nichts >nice and easy<. Wenn’s nach mir geht, dann stimme ich für >rough<. Wo sind die Scharfschützen?«
»Auf dem Dach.«
»Scharfschützen?« Ich sah wieder nach oben. »Aber wir wissen nicht, wo Clem -«
»Eben. Sie halten sich auch nur bereit. Wir wissen nicht, welche Waffen dieser Kerl bei sich hat. Für den Fall, dass er durchdreht, haben wir Feuerkraft. Der Raum ist umringt von Emergency Services und Sanitätern, und in jeder Ecke ist ein Boss. Kerry und ich werden tun, was wir zu tun haben. Wir bestimmen, was gemacht wird. Ihr beide habt mehr Fakten, also bleibt ihr hier, für den Fall, dass ich Informationen brauche.«
Regel Nummer eins bei Geiselnahmen war, einen bestimmten Radius abzustecken. Man schickte einen Mann oder ein Team hinein, um mit dem Geiselnehmer zu reden, während sich alle anderen in Bereitschaft hielten.
»Wir glauben, dass Erik Poste da drinnen ist. Hast du im Keller irgendwas gefunden, was auf ihn als Täter hindeuten würde?«, fragte Mike Mercer.
»Arsen?« Ich hatte Angst, dass er es Clem bereits verabreicht hatte.
»Eve Drexler glaubt, dass sie - das heißt, eigentlich Thibodaux - die Antwort gefunden hat«, sagte Mercer. »Sieht so aus, als ob Erik Poste jedes Mal, wenn Bellinger eine Arsenbestellung für die Cloisters in Auftrag gab, eine zusätzliche Menge für Restaurierungsarbeiten in seiner Abteilung anforderte.«
»Er hat das Zeug in der Taxidermieabteilung wahrscheinlich nie angerührt, aber er wollte, dass es danach aussieht, als ob jemand aus diesem Museum für die Vergiftung verantwortlich sei«, sagte Mike. »Wenn er also heute Abend nicht mit Clem gerechnet hat, hat er wahrscheinlich nichts von seinem privaten Nachschub mitgebracht.«
»Wir versuchen es. Auf unsere Art«, sagte Mercer zu Mike. »Hab Geduld, und geh mir aus dem Weg! Wir haben noch kein Menschenleben verloren, und ich habe nicht vor, heute Nacht damit anzufangen.«
Mike kniete nieder und skizzierte die genaue Position des Lagerraums, in dem wir Erik Poste vermuteten. Dann gingen Mercer und Kerry den engen Gang hinunter, bis ihre Gestalten von der Dunkelheit verschluckt wurden und ich nur noch die scharlachroten Buchstaben hinten auf Kerrys Jacke sehen konnte: TALK TO ME.
Die beiden postierten sich neben dem verschlossenen Raum. »Mr. Poste«, hörte ich als Nächstes Mercers sanfte dunkle Bassstimme. »Erik? Hier spricht Mercer Wallace.«
Keine Antwort, kein Geräusch. Der Verhandlungsführer bezeichnet sich selbst nie als Cop und erwähnt niemals einen Rang. Er gibt nie die Tatsache preis, dass er eine ganze Mannschaft im Rücken hat.
Hinter uns bewegte sich etwas. Ich drehte mich um und sah, wie zwei Männer in pechschwarzen Overalls auf den Laufsteg kletterten. Sie hatten Scharfschützengewehre über die Schulter geworfen und gingen - bei weitem sicherer, als ich es getan hatte - über die Räume links und rechts von Mercer. Scharfschützen waren sowohl unter als auch auf dem Museumsdach.
Mercer rückte näher an den Lagerraum heran. »Erik, ich möchte, dass Sie mir zuhören.« Er musste einen Weg finden, den Geiselnehmer in ein Gespräch zu verwickeln, ohne den falschen Ton zu treffen.
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