Die Knochenkammer
sie unter Umständen Informationen haben, die Ihnen weiterhelfen könnten. Mir fiel ein, dass beide sie gut gekannt haben. Wo möchten Sie anfangen?«
Ich wollte mehr über das Opfer wissen. Welche Art Mensch sie war, womit sie ihren Lebensunterhalt verdiente, was sie in ihrer Freizeit gern tat. Mit welchen Leuten sie Umgang pflegte und ob sie ein risikofreudiger Mensch war. Wer ihre Familie war und was sie über ihr Verschwinden dachte. Ich brauchte eine Skizze von Katrina Grooten, die sie vor meinem geistigen Auge lebendig machte, damit ich die Ereignisse rekonstruieren konnte, die zu ihrem Tod geführt hatten.
Mike hingegen wollte die Tote nicht besser kennen lernen, als es ihm die Fakten aufzwangen. Er blieb bei Verstand, indem er eine gewisse Distanz wahrte zu der Person, deren Mörder er finden wollte. Obwohl er hartnäckig jede Kleinigkeit über Katrinas Leben in Erfahrung bringen würde, wollte er nichts verinnerlichen, was ihn veranlassen könnte, ihr Leben oder ihren Lebensstil zu kritisieren. Es war ihm egal, ob sie beliebt oder verhasst gewesen war, ob sie sexuell aktiv oder eine Einsiedlerin gewesen war. Für ihn zählte nur, dass sie es nicht verdient hatte, so zu sterben, und niemand würde sich mehr anstrengen als er, um den Mistkerl zu fassen, der für ihr hässliches Ende verantwortlich war.
»Vielleicht könnte uns jeder von Ihnen erzählen, was Sie über Katrina wussten, beruflich und privat. Wir brauchen jedes Detail, an das Sie sich erinnern können.«
Gaylord sprach als Erster. »Ich habe vermutlich am wenigsten beizusteuern, also kann ich genauso gut anfangen. Wissen Sie über das Gemeinschaftsprojekt mit dem Naturkundemuseum Bescheid?«
»Ich weiß, dass es nächstes Jahr eine gemeinsame Ausstellung geben soll, die gestern Abend feierlich verkündet wurde. Aber weder ich noch Detective Chapman kennen die Details.«
»Seit über einem Jahrhundert besteht zwischen den beiden Institutionen eine ziemlich intensive Rivalität. Sie sind beide in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts gegründet worden, und die Kuratoriumsmitglieder wollten ursprünglich beide Museen an der gleichen Stelle errichten. Manhattan Square, auf der Westseite des Parks. Erst später zog das Met zu seinem jetzigen Standort um, damals Deer Park genannt, die Gegend zwischen der Seventyninth und Eightyfourth Street auf der Upper East Side. Präsident Grant legte den Grundstein für das Naturkundemuseum, und Präsident Hayes weihte das Metropolitan ein.«
»Warum der Konflikt?«, fragte Chapman. »Lässt sich der nicht beilegen, damit man über aktuelle Themen sprechen kann?«
»Die Kuratoriumsmitglieder des Metropolitan, die sagenhaft reichen Kauf- und Geschäftsleute jener Zeit, hatten außergewöhnlich hoch gesteckte Ziele. Sie orientierten sich an den großen Museen Europas, von denen die meisten davon profitierten, dass sie jahrhundertelang ihre Nachbarn geplündert hatten oder von den Königsfamilien unterstützt wurden. Beide Methoden hatten sich bei der Etablierung von Sammlungen bestens bewährt. Unsere Gründer wollten mit Hilfe der Kunst die Massen bilden und erziehen und ihnen kunsthistorisches Wissen zur Verfügung stellen, das in anderen zivilisierten Ländern bereits existierte.«
»Tat das Naturkundemuseum nicht das Gleiche?«
Alle drei Kuratoren rümpften gleichzeitig die Nase.
»Das kann man wohl kaum Kunst nennen, Mr. Chapman. Naturkundemuseen entwickelten sich aus einer völlig anderen Sammelleidenschaft heraus. Sie sind Nachkommen dessen, was man >Kuriositätenkabinette< nannte. Fossilien, Mineralien, Mollusken, Muscheln, Insekten, und die allzeit populären Dinosaurier. Sie sind eine faszinierende Fundgrube aller bizarren und wundersamen Kreaturen, die jemals die Erde bevölkert haben.«
»Heutzutage bemühen sie sich redlich, sich wissenschaftlich zu nennen, aber für uns andere im Museumsgeschäft besitzen sie nur konservierte Überreste. Haufenweise tote Sachen in Einweckgläsern und hinter Glas«, sagte Erik Poste.
»Aber stellen Sie ihre besten Exponate neben ein Gemälde von Delacroix oder Vermeer oder auch neben die Fayencesphinx von Amenhotep III., und es ist einfach nur lachhaft«, sagte Gaylord. »Wir sind kein Warenlager des Bizarren und Ausgestorbenen. Wir sind schlicht und einfach die größte Kunststätte der westlichen Welt, eine lebende Institution, die nicht nur informativ, sondern auch auf eine Art und Weise erbaulich ist, wie es unser Schwestermuseum auf der
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