Die Knochenkammer
gingen auf den Flur hinaus.
Er wählte die Nummer der Sonderkommission für Sexualverbrechen und sah auf seine Uhr.
»Hey, Joey, arbeitet Mercer Wallace heute?« Er wartete, während der Detective auf den Dienstplan sah. »Wenn er kommt, sag ihm bitte, dass er mich auf meinem Handy anrufen soll. Er muss mir in einem alten Fall etwas raussuchen. Nein, danke. Nicht nötig, dich damit zu belästigen.«
Er legte auf. »Du warst schon mal besser in Form, Blondie! Wie kommt’s, dass du nicht Bescheid weißt über eine Klägerin, die in einem öffentlichen Park vergewaltigt worden ist?«
»Weil jemand den Fall absichtlich verschlampt hat, damit wir ihn nicht in die Hände bekommen.«
»Das heißt, dass dich der Boss dort oben nicht mag, oder vielleicht der Kerl, der die Meldung entgegengenommen hat. Bist du dir sicher, dass du nichts darüber weißt?«
»Ich werde Laura bitten, unsere Kartei zu überprüfen, aber der Fall fasst zu viele heiße Eisen an, als dass er mir nicht im Gedächtnis geblieben wäre.« Meine Abteilung verfügte über ein ausgeklügeltes Archivierungssystem von Sexualverbrechen, wobei jeder Eintrag mit Querverweisen auf den Namen des Opfers und des Täters, das Datum und den Tatort versehen war. Egal, ob eine Verhaftung stattgefunden hatte oder der Fall vor Gericht ging, es wurde in jedem Fall ein Bericht erstellt.
Sarah und ich hielten unser System für narrensicher, aber von Zeit zu Zeit gelang es der Polizei, etwas unter den Teppich zu kehren.
»Das Opfer ist Ausländerin - was den Bürgermeister wahnsinnig machen würde.« Es war schlimm genug, eine New Yorkerin zu vergewaltigen oder zu ermorden, wenn das Rathaus die Verbrechensstatistiken so genau im Auge behielt, aber Überfälle auf Fremde zogen landesweite Schlagzeilen nach sich, die die Tourismuseinnahmen für die Hotel- und Restaurantbranche gefährdeten. »Sie arbeitete für eines der großen Kunstmuseen und wurde in einem öffentlichen Park angegriffen. Das würde wahrscheinlich für Unruhe sorgen. Mercer erscheint jeden Augenblick zur Spätschicht. Er kann uns die Akte raussuchen.«
Mercer Wallace war der Dritte in unserem Bunde. Mit einundvierzig war er fünf Jahre älter als Mike und ich und würde in Bälde zum ersten Mal Vater werden. Er und seine Exfrau Vickee hatten am Neujahrstag erneut geheiratet, nachdem sie zu einer Zeit, als ihn eine Schusswunde in der Brust fast das Leben gekostet hätte, wieder in sein Leben kam.
Durch seine Größe und tiefschwarze Hautfarbe war Mercer nirgends zu übersehen. Aber es waren sein detailgenauer Ermittlungsstil und sein mitfühlender Umgang mit Zeugen, die ihn zu meinem Lieblingsdetective bei der Sonderkommission für Sexualverbrechen machten, die für jedes Sexualverbrechen und jeden Fall von Kindesmisshandlung im Stadtbezirk verantwortlich war. Sein Vater, ein verwitweter Flugzeugmechaniker, hatte vor seiner Pensionierung mehrere Jobs gehabt, um Mercer das Studium zu finanzieren, aber dieser hatte in letzter Minute ein Footballstipendium für die Universität von Michigan abgelehnt und sich an der Polizeiakademie eingeschrieben.
Mike und Mercer hatten einige Jahre im Morddezernat von Manhattan North zusammengearbeitet, bis Mercer beschloss, dass er lieber mit Zeugen zu tun hatte, die noch am Leben waren und die die Kraft eines sensiblen, klugen Detectives brauchten, um ihre Würde wiederzuerlangen und ihren Vergewaltigern die gerechte Strafe zukommen zu lassen. Öfter als uns lieb war überlappte die Arbeit der beiden Abteilungen, und das Opfer eines Sexualverbrechens wurde Gegenstand einer Mordermittlung.
Eve Drexler wartete im Flur auf uns. Sie begleitete uns zurück zu den Aufzügen und fuhr mit uns ins Untergeschoss. Als die Türen aufgingen, deutete sie auf ein Schild auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors, auf dem Lissens Name stand. Noch ehe ich sie bitten konnte, uns zu Ende zu erzählen, wie Thibodaux auf die Nachricht vom Unfalltod seiner Frau reagiert hatte, schlossen sich die Aufzugstüren wieder. Ich bat Mike, die Frage in seine Liste aufzunehmen.
Das kleine Zimmer, in dem der Leiter der Versandabteilung untergebracht war, verfügte nicht über die Annehmlichkeiten des Büros des Museumsdirektors. Ungerahmte Posterreproduktionen waren mit Reißnägeln an den verschrammten Wänden befestigt, ähnlich wie in einem Studentenwohnheim. Aktenschränke standen an den Wänden, der Computer war so eingestaubt, dass es den Eindruck machte, als wäre er seit seiner
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