Die Knochenleserin
»Hallo, Montalvo.«
»Was für ein Vergnügen festzustellen, dass Sie wieder kräftig und gesund aussehen, Quinn. Ich war sehr betrübt, als Sie so krank und nur noch ein Schatten Ihrer selbst waren.«
Joe wandte sich ihm zu. Wie in Kolumbien trug Montalvo seine übliche Uniform aus Stiefeln, Khakihose und Khakihemd und er schien sich in diesem Wald wie zu Hause zu fühlen. »Blödsinn. Ich war Ihnen im Weg, und es wäre Ihnen mehr als recht gewesen, wenn ich den Löffel abgegeben hätte.«
Montalvo lachte in sich hinein. »Da irren Sie sich. Es wäre eine Garantie dafür gewesen, dass Sie ein Teil meines Lebens bleiben. Und Eve hätte es mir nie verziehen.«
Joe spürte, wie die Wut in ihm hochkroch. Tagelang verletzt und hilflos auf Montalvos Anwesen herumzuliegen, stets den energiegeladenen und kraftstrotzenden Hausherrn vor Augen, hatte er als tiefe Schmach empfunden. Die Erinnerung daran war immer noch wie eine pochende Wunde. Aber er musste die Ruhe bewahren, auch wenn er dem Scheißkerl am liebsten das Genick gebrochen hätte. »Sie haben recht.« Er richtete seinen Blick wieder auf den Sumpf. »Eve ist ihren Liebsten gegenüber absolut loyal.«
Eine Weile war Schweigen hinter ihm. »Ein wunderbarer Charakterzug. Eine wundervolle Frau.«
»Was tun Sie hier, Montalvo?«
»Ein Versprechen einlösen.« Er trat neben Joe. »Ist das so schwer zu glauben?«
»Ja.«
»Ich verstehe, dass Sie damit Probleme haben, angesichts dessen, was auf dem Spiel steht. Aber auf meine Weise bin ich ein Ehrenmann. Man braucht einen Kodex, nach dem man sich im Leben richtet. Ich halte jedes Versprechen, und ich begleiche alle meine Schulden.«
»Und dasselbe gilt auch für das Eintreiben von Schulden«, sagte Joe durch die Zähne.
Montalvo lächelte. »Das versteht sich von selbst.«
»Muss ich Sie erst fragen, warum Sie hier sind?«
»Aus demselben Grund wie Sie. Ich will Kistle fassen.« Und leise fügte er hinzu: »Ich will der Dame den Drachen präsentieren und ihm den Kopf abschlagen. Und dann hoffe ich, dass sie mich einer Belohnung für würdig erachtet. Ist es nicht auch das, was Sie sich wünschen, Quinn?«
»Das ist zu simpel.«
»Es ist ehrlich. Will ich ihren Schmerz lindern? Ja. Will ich ihr denselben Trost spenden, den sie mir verschafft hat, als sie den Schädel meiner Frau rekonstruiert hat? Ja, aus ganzem Herzen. Will ich sie mit ins Bett nehmen und nie wieder zu Ihnen zurückgehen lassen? Darauf können Sie Gift nehmen.« Er ließ den Blick über den Sumpf schweifen. »Und hier bietet sich vielleicht die Möglichkeit, alle drei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Ich müsste doch ein Narr sein, mir eine solche Gelegenheit durch die Lappen gehen zu lassen.«
»Warum haben Sie Venable gebeten, das FBI ins Spiel zu bringen, wenn Sie Kistle selbst stellen wollen?«
Montalvo schaute ihn an und lächelte. »Können Sie sich das nicht denken? Falls ich Kistle nicht ergreife, sollen auch Sie nicht derjenige sein, dem es gelingt. Mir wäre es lieber, das FBI kriegt ihn zu fassen, als dass Sie nachher als der große Held dastehen. Als ehemaliger SEAL sind Sie garantiert ein erstklassiger Jäger. Es würde mir sehr gegen den Strich gehen, wenn Sie den Drachen für Eve erlegten.«
»Dann sollten Sie sich auf eine Enttäuschung gefasst machen. Cassidy will nicht hierbleiben und sucht nach einem Vorwand, um wieder nach St. Louis zurückkehren zu können.«
Montalvo nickte. »Das habe ich dem Gespräch mit ihm bereits entnommen. Ich werde ihn dazu bringen müssen, dass er es sich anders überlegt.«
»Sie werden also bei der Jagd auf Kistle nicht mit uns kooperieren?«
»Doch, das werde ich. Alles andere wäre dumm von mir. Ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann.« Er wies auf die Eiche auf der anderen Seite des Sumpfs. »Das zum Beispiel ist der Baum, auf dem Kistle gesessen hat. Es ist der einzige, der ihm den richtigen Schusswinkel bot.«
»Er wurde gejagt und brauchte Zeit, um die Zweige auf dem Treibsand zu verteilen. Danach hätte er mehrere hundert Meter um den Sumpf herumlaufen müssen, um zu diesem Baum zu gelangen.«
»Er ist nicht gelaufen.« Montalvo zeigte auf die Kronen der drei Bäume, die den Sumpf überragten. »Er hat sich an den Ästen über den Sumpf gehangelt. Er ist im Handumdrehen in diese Eiche gelangt.«
»Wie können Sie sich da so sicher sein?«
»Bin ich gar nicht. Aber ich habe zwei frische Abschürfungen an der Rinde des Ahornbaums auf dieser Seite des Sumpfs entdeckt.
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