Die Knochenleserin
Untergang flatterte. Er mochte vielleicht begriffen haben, dass Kistle derjenige sein könnte, der ihr endlich Frieden verschaffte und ihr dazu verhalf, einen Schlussstrich zu ziehen, aber akzeptieren konnte er es nicht.
»Schön, Sie zu sehen, Eve. Auch wenn ich mir gewünscht hätte, es wäre unter anderen Umständen.«
Als sie sich umdrehte, sah sie Miguel Vicente aus dem Hotel kommen. Bei ihrer letzten Begegnung hatte er im Bett gelegen und sich von der Folter erholt, die ihm dieser Drogenhändler zugefügt hatte, der in jenen alptraumhaften Wochen im Dschungel beinahe auch Joe getötet hätte. Auch wenn man weiß Gott nicht behaupten konnte, dass er schüchtern gewesen wäre, gesundheitlich war es ihm jedenfalls sehr schlecht gegangen. Jetzt wirkte er wieder wie der junge Mann, den sie auf dem schwerbewachten Gelände in Kolumbien kennengelernt hatte. Er war ein hochgewachsener, dunkler Typ, sah gut aus und hatte den Schalk im Nacken, was manchmal liebenswert war, einen aber auch zur Verzweiflung treiben konnte. »Hallo, Miguel. Montalvo hat mir schon gesagt, dass Sie hier sein würden.« Stirnrunzelnd betrachtete sie seine bandagierten Hände. »Und ich habe ihm gesagt, er soll Sie sofort zurück ins Krankenhaus schicken.«
»Wenn ich mich vorsehe, geht’s ganz gut.« Er lächelte. »Zum Beispiel werde ich Ihnen nicht anbieten, Ihre Koffer ins Hotel zu tragen. Auch wenn es mir gegen den Strich geht, werde ich Sie ihr Gepäck selbst tragen lassen.« Er neigte den Kopf. »Ich könnte allerdings hineingehen und dem Pagen Beine machen, der eigentlich hier draußen sein und seinen Pflichten nachkommen sollte.« Er strahlte übers ganze Gesicht. »Ja, dann wäre es schon erheblich weniger langweilig. Warten Sie hier.«
»Nein«, erwiderte Eve bestimmt. Sie wusste genau, wie gefährlich Miguel selbst mit diesen verwundeten Händen sein konnte. »Ich trage sie selbst rein.«
»Diese Schachtel da kommt mir doch ziemlich bekannt vor«, sagte er. »Schon wieder ein Schädel?«
»Ja.«
»Von jemandem, den ich kenne?«
»Nein. Er ist von einem Kind, das bis jetzt noch niemand kennt.«
Sein Lächeln verschwand. »Ich wollte nicht respektlos sein. Wie Sie wissen, bin ich von Natur aus neugierig.«
»Warum sind Sie hier, Miguel?«
»Erstens, um mich zu vergewissern, dass Sie gut untergebracht sind. Zweitens, um sicherzustellen, dass Sie am Leben bleiben. Montalvo hält allerdings Letzteres für wichtiger als Ersteres.« Von seinem jungenhaften Verhalten war nichts mehr zu spüren, als er sich zu dem Pagen umdrehte, der am Rezeptionstresen lehnte. »Ich glaube, da wartet Arbeit auf Sie«, sagte er leise und zeigte auf Eves Koffer. »Wenn das nicht bald geschieht, werde ich sehr ungemütlich.«
Der Page setzte ein Lächeln auf, blinzelte und beeilte sich, der Aufforderung nachzukommen.
»Gut.« Miguel drehte sich wieder zu Eve um. »Und jetzt gehen Sie am besten nach oben und sagen Jane Bescheid, dass ich hier bin und im Foyer sein werde, falls mich jemand braucht.«
»Woher wissen Sie, dass ich mit Jane hier bin? Wo wir schon mal dabei sind, woher wussten Sie überhaupt, dass ich in diesem Hotel sein würde?«
»Ich bin Ihnen vom Flughafen aus hierher gefolgt. Aber ich habe es vorgezogen, mich Ihnen nicht zu zeigen, solange Quinn in der Nähe war. Er ist nicht gerade ein Fan von mir. Mir ist aufgefallen, dass er nicht besonders gut gelaunt war.«
»Dazu hat er auch keinen Grund.«
Miguel nickte. »Montalvo steht auch total unter Strom. Bin ich eigentlich zum Abendessen eingeladen, damit ich Jane MacGuire endlich kennenlernen kann? Es kommt mir beinahe so vor, als würde ich sie schon kennen, und sie wird mich bestimmt interessant finden.«
»Sie können gern mit uns zu Abend essen. Aber ich brauche Ihren Schutz nicht. Wir sind hier nicht in Kolumbien.«
»Stimmt, hier gefällt es mir besser, aber ich ziehe die Disziplin vor, die Montalvo verlangt. Es ist erheblich leichter, am Leben zu bleiben, wenn jeder die Regeln kennt und sich über die Folgen im Klaren ist. In Ihrem Land ändern sich die Gesetze ständig, und es gibt immer Ausnahmen.« Er legte den Kopf schief. »Sehen wir uns dann also um sechs zum Abendessen?«
Sie nickte. »Aber legen Sie sich bitte nicht im Foyer auf die Lauer.«
Er lächelte fröhlich. »Wie Sie wünschen. Ich fahre zum Wald und seh mal nach, was da los ist. Ich glaube, Montalvo hat mich nur deshalb beauftragt, Sie zu bewachen, weil er mich nicht am Sumpf haben will. Er redet
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