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Die Knochenleserin

Die Knochenleserin

Titel: Die Knochenleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Johansen
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Dort muss er hochgeklettert sein, um zu den anderen Bäumen zu gelangen. Das ergibt einen Sinn.«
    Ja, es ergab einen Sinn, dachte Joe. Es hätte ihn eigentlich nicht überraschen dürfen, dass Montalvo in der Lage war, das Szenario zu rekonstruieren. Er war Colonel in der Rebellenarmee gewesen, bevor er Waffenhändler geworden war, und er hatte jahrelang im Dschungel gelebt.
    »Er muss außergewöhnlich kräftig und behände sein.«
    »Nicht so außergewöhnlich. Ich könnte das auch schaffen.« Montalvo schaute Joe an. »Und Sie könnten es ebenfalls.«
    »Wir haben beide eine Ausbildung und viel Erfahrung.«
    »Kistle auch.« Montalvo lächelte. »Er hat ein halbes Jahr im Dschungel von Nicaragua überlebt.«
    Joe erstarrte. »Woher zum Teufel wissen Sie das?«
    »Glauben Sie vielleicht, ich hätte Däumchen gedreht, seit ich aus Kolumbien abgereist bin? Ich musste bei Miguel bleiben, während er operiert wurde, aber in der Zeit haben ein paar Leute rund um die Uhr Informationen für mich ausgegraben. Zwar verfüge ich nicht über Ihre Kontakte zur Polizei, aber Geld löst auch so manche Zunge.«
    »Was haben Sie noch herausgefunden?«
    »Nicht genug. Kistle versteht es hervorragend, seine Spuren zu verwischen. Aber einige Details können uns schon ein etwas deutlicheres Bild von ihm geben.«
    »Uns?« Joe biss sich auf die Unterlippe. »Sagen Sie bloß, Sie wollen Informationen herausrücken?«
    »Natürlich. Eve würde es nicht verstehen, wenn ich mich anders verhielte.«
    Verdammt, der Scheißkerl war wirklich clever, dachte Joe erbittert. Und er hatte sich so weit ein Bild von Eve gemacht, dass er genau einschätzen konnte, wie sie reagieren würde. »Und wann werden Sie uns diese Informationen geben?«
    »Das liegt ganz an Ihnen. Sobald Sie und Eve beschließen, sich mit mir zusammenzusetzen. Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung.«
    »Wahrscheinlich würde ich dieselben Informationen auch selbst herausfinden, wenn ich mich dahinterklemmen würde.«
    »Davon bin ich überzeugt. Wenn Sie die nötige Zeit hätten.« Er warf einen Blick zu Cassidy hinüber, der gerade mit den Deputies redete. »Vielleicht könnte er Ihnen helfen. Aber das FBI wollen Sie ja möglichst schnell wieder loswerden.«
    »Das habe ich nicht gesagt.«
    »Nein, aber Sie wollen Kistle selbst fassen und die Wahrheit aus ihm herausquetschen. Das könnte ein ziemliches Chaos werden, und Sie müssten damit rechnen, dass das FBI einschreitet.«
    »Die Leute vom Sheriff’s Department nicht zu vergessen.«
    »Mit denen werden Sie kaum Probleme bekommen.« Montalvo wandte sich ab. »Miguel ist im Hotel, um Eve zu beschützen. Sollten Sie mich treffen wollen, brauchen Sie nur Miguel Bescheid zu sagen.«
    »Verlassen Sie sich nicht darauf. Wo wollen Sie hin?«
    »Ich werde Cassidy bitten, sich diesen Baum näher anzusehen. Wer weiß? Vielleicht finden wir ja etwas Interessantes.«
    Joe bezweifelte das. Kistle war bisher immer ausgesprochen clever und umsichtig vorgegangen. Er betrachtete die überhängenden Äste der Bäume. Ja, er konnte sich jetzt lebhaft vorstellen, wie Kistle sich über den Sumpf gehangelt hatte. Bei einer Mission in Libyen hatte Joe selbst auf diese Weise einen schmalen Fluss überquert. Eine Hand vor die andere, zugreifen, sich vorwärts hangeln, wieder zugreifen, alle Muskeln angespannt. Sein Herz hatte wie wild geklopft, nicht vor Angst, sondern wegen eines beflügelnden Hochgefühls, mit dem er seine Kraft und die Bezwingung des Flusses genossen hatte. Dasselbe berauschende Gefühl stieg jetzt wieder in ihm hoch, er verspürte plötzlich den Drang, auf diesen Baum zu steigen und  –
    »Mit einem Mal ist alles wieder da, stimmt’s?«, sagte Montalvo leise. Als Joe sich zu ihm umdrehte, stand er einige Meter entfernt, den Blick wie Joe auf die Baumkronen geheftet. »Damals war das Leben noch einfacher. Ein Soldat hat nur wenige Regeln, an die er sich halten muss. Töten oder getötet werden. Feuer, Flüsse und Kugeln überleben. Im Moment leben und den Augenblick genießen. Manchmal fehlt mir das richtig.«
    Joe ging es ähnlich. Auch er verspürte hin und wieder den Wunsch, auszubrechen und wieder zu dem Mann zu werden, der er einmal gewesen war, wieder mit der Wildnis zu verschmelzen. »Das ist schon lange her.«
    Montalvo nickte und drehte sich um. »Ja, bei mir auch. Aber im Moment kommt es einem wie gestern vor. Ist das nicht merkwürdig?«
    Joe sah ihm nach, als er wegging. Herrgott noch mal, er hatte doch

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