Die Knochenleserin
wurde. Es kann gut sein, dass ich hinfahre und gar nichts höre.«
»Gott, ich hoffe es. Kann ich es dir denn gar nicht ausreden?«
»Nein.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich muss jetzt los. Venables Agent kommt jeden Moment, um mich abzuholen. Ich werde gegen sechs Uhr in Illinois sein.« Sie nahm ihre Reisetasche und trat in den Flur, um ihren Arztkoffer zu holen. »Ich rufe dich an, wenn alles vorbei ist.«
»Ich bitte darum. Oder ich komme nach Bloomburg, um dich abzuholen.«
Sie spürte seinen besorgten Blick im Rücken, als sie auf die Veranda trat. Am liebsten wäre sie wieder hineingerannt in den sicheren Hafen, den ihr Onkel ihr immer bot. Ob es ihr gelungen war, ihn halbwegs zu beruhigen? Wahrscheinlich nicht. Er kannte sie gut genug, um zu spüren, wie viel Angst es ihr machte, an dieses Flussufer zu fahren.
Bitte lass es nicht den Ort sein.
Bitte lass die Stimmen schweigen.
»Da sind Sie ja«, sagte Montalvo, als der Wagen des Sheriffs am Rand der Straße oberhalb des Flusses hielt. »Es wird nicht lange dauern, Eve.«
»Wer weiß.« Es war kalt am Fluss. Vielleicht lag es aber auch nur an den Erinnerungen an diese früheren Male. »Wie lange müssen wir das Theater durchhalten, bevor Sie Venable anrufen?«
»Wir werden uns ganz auf unser Gefühl verlassen.«
Sheriff Dodsworth öffnete die Wagentür, und eine junge Frau stieg aus. Megan Blair hatte glänzendes dunkles Haar, leuchtende Augen, und sie strahlte Vitalität aus.
»Sie ist hübsch«, sagte Eve. »Die Medien werden sie lieben.«
»Venable sagt, dass sie genauso medienscheu ist wie Sie.«
»Garantiert.« Sie musterte die Frau, die auf sie zukam. Megan Blair lächelte nicht, und sie hatte die Hände in die Taschen ihrer Jacke geschoben. »Das glaube ich erst, wenn sie in den nächsten sechs Wochen kein Interview gibt.«
Der Sheriff war offensichtlich sehr von Megan angetan, wich nicht von ihrer Seite, lächelte und plauderte. Sie nickte abwesend, den Blick auf Eve und Montalvo gerichtet.
Als sie näher kam, fiel Eve auf, wie angespannt Megans Mund war und wie steif sie sich hielt. Merkwürdig. Der Sheriff stellte sie einander vor.
»Eve Duncan, Luis Montalvo, das ist Dr. Megan Blair. Ms Duncan ist forensische Gesichtsrekonstrukteurin, Dr. Blair.«
»Ich weiß. Ich bin aus Atlanta, und jeder dort hat von ihr gehört. Sie ist weltberühmt. Wie geht es Ihnen?« Megan nahm die Hand aus der Tasche und hielt sie Eve hin. Dann, bevor Eve sie nehmen konnte, zog sie sie abrupt zurück. »Tut mir leid. Ich wollte nicht – wie gedankenlos von mir.« Sie schob die Hand wieder in ihre Jackentasche und drehte sich zum Sheriff um. »Wo soll ich hingehen?«
Guter Gott, die Frau war völlig panisch, dachte Eve. Oder wenn sie es nicht war, dann spielte sie es hervorragend.
Der Sheriff zeigte zum Flussufer hinunter. »Bobby Joes Tennisschuhe und sein Hemd wurden bei dem Baum dort unten gefunden.«
»Dann wollen wir es hinter uns bringen«, sagte sie und ging die Böschung hinunter.
»Ungewöhnlich«, murmelte Montalvo, als er Eves Arm nahm, um sie zum Ufer hinunterzugeleiten. »Warum wollte sie Ihnen nicht die Hand geben?«
Ungewöhnlich, aber das hieß noch nicht, dass sie ehrlich oder uneigennützig war. »Vielleicht hat sie eine Bakterienphobie. Oder ein schlechtes Gewissen.«
Als sie das Flussufer erreicht hatten, blieb Eve stehen und beobachtete Megan Blair, die zu dem Baum ging. »Wollen Sie dem Sheriff keine Fragen stellen? Kann Ihnen das nicht etwas nützen, wenn Sie ›erspüren‹, was mit ihm passiert ist?«
»Nein.« Sie warf Eve einen Blick über die Schulter zu. »Warum sind Sie so verbittert? Glauben Sie vielleicht, mir macht das hier Spaß?«
»Sie würden es doch sonst nicht tun. Was für ein Doktor sind Sie? Doktor der Philosophie?«
»Nein. Ärztin. Ich habe im St. Andrew’s in der Notaufnahme gearbeitet.«
»Und was zum Teufel tun Sie dann hier?«, fragte Eve. »Ist das eine Art verrücktes Hobby?«
»Verrückt ist es. Aber kein Hobby.« Sie befeuchtete ihre Lippen. »Jetzt halten Sie sich bitte zurück. Ich bin schon gestresst genug. Ich habe keine Ahnung, warum Sie so wütend sind, und es interessiert mich auch nicht. Ich will das hier nur hinter mich bringen, damit ich wieder nach Hause fahren kann.«
»Störe ich Ihre Konzentration?«
»Es wäre ein Segen, wenn Sie das könnten. Warum sind Sie –« Sie unterbrach sich, und ihre Augen wurden größer. »O mein Gott, Ihre kleine Tochter.
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