Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Knochenleserin

Die Knochenleserin

Titel: Die Knochenleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Johansen
Vom Netzwerk:
irgendwo. Er wartete. Sie konnte ihn regelrecht fühlen.
    Ruf mich an, du Scheißkerl.
    Sag mir, dass die Kleine noch lebt.
     
    »Gefällt dir die Bootsfahrt, Laura Ann?«, fragte Kistle, als er das Ruder ins Wasser tauchte. »Es wird langsam dunkel. Sieh mal, all die Schatten. Diese Zypresse dort sieht doch aus wie ein richtiges Ungeheuer, stimmt’s? Mit ihren Wurzeln, die sich unter der Wasseroberfläche wie Krakenarme ausbreiten.« Er spürte, wie sich die Erregung intensivierte, als er sich umblickte. Es war sehr lange her, seit er in diesen Sümpfen gewesen war. Welch tiefe Befriedigung er hier erlebt hatte. Die Angst, das Blut, die Macht … »Hier gibt es alle möglichen Ungeheuer. In der Nähe der Insel, zu der wir fahren, wartet schon ein hungriger Alligator, der gefüttert werden will. Vielleicht werfe ich dich ihm zum Fraß vor.«
    Laura Ann versuchte das Schluchzen zu unterdrücken. Er fing immer an zu lächeln, wenn sie weinen musste. Er hatte seinen Spaß daran.
    »Siehst du, wie sich das Wasser bewegt und zittert? Manche sagen, dass die Torfmassen am Grund des Sumpfs das Zittern erzeugen. Aber ich weiß es besser. Selbst das Wasser weiß Bescheid über die Ungeheuer.«
    Sie wollte nicht auf das Wasser schauen. Sie hatte Angst, dass sie das sehen würde, was er wollte. Sie starrte ihm direkt ins Gesicht.
    »Es geht mir auf die Nerven, dass du nicht mit mir sprichst. Hier ist weit und breit keine Menschenseele, also kann ich dir genauso gut den Knebel abnehmen. Wenn du schreist, werfe ich dich aus dem Boot und überlasse dich den Ungeheuern.« Er beugte sich vor, zerschnitt das Seil, mit dem er ihre Handgelenke zusammengebunden hatte und riss ihr das Klebeband vom Mund. »Hat das weh getan? Die Zähne eines Alligators können viel mehr weh tun.«
    Ihre Lippen waren geschwollen und brannten. Sie durfte es sich nicht anmerken lassen. »Hat nicht weh getan«, sagte sie trotzig. »Und ich glaube auch nicht, dass es in diesem Sumpf Ungeheuer gibt. Sie sind ein Lügner.«
    »Stimmt, das bin ich«, erwiderte er. »Und du bist schlau genug, es zu merken. Ich würde dich nur als letztes Mittel dem Alligator zum Fraß vorwerfen. Ich bin nämlich das einzige wirkliche Ungeheuer hier, und ich möchte das Vergnügen, dir weh zu tun, möglichst lange auskosten.«
    Nicht weinen. Bloß nicht weinen. »Die Polizei kriegt Sie, und dann werden Sie auf dem elektrischen Stuhl geschmort. Oder diese Lady kommt und hilft mir.«
    »Eve. Ja, sie wird kommen und versuchen, dir zu helfen.« Er nahm sein Handy aus der Tasche. »Und es ist an der Zeit, dass ich sie anrufe und ihr erzähle, dass du wohlauf und glücklich bist. Sie wird ganz bestimmt mit dir sprechen wollen. Aber du kleines Miststück wirst dich wahrscheinlich wieder nicht so verängstigt geben, wie ich es von dir erwarte.« Er wählte die Nummer. »Hier bin ich, Eve. Ich habe Laura Ann gerade eben von den Ungeheuern erzählt, die hier im Sumpf ihr Unwesen treiben. Sie glaubt, Sie wären der edle Ritter, der kommt und ihnen allen den Kopf abschlägt. Ich warte schon darauf, dass Sie kommen und Ihr Glück versuchen.« Er lauschte eine Weile, dann reichte er das Handy an Laura Ann. »Sie hält mich für einen Lügner, genau wie du. Sprich mit ihr.«
    »Hallo.«
    »Hör zu, Kleines, ich weiß, dass du dich an einem unheimlichen Ort befindest, aber versuch, keine Angst davor zu haben. Der Mann ist derjenige, vor dem du Angst haben musst«, sagte Eve. »Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis wir dich finden, aber wir finden dich.«
    »Er hat gesagt, er will mir weh tun.«
    »Und das bedeutet, dass er sich noch Zeit lassen wird. Vorerst bist du also nicht in Gefahr. Aber wenn es dir irgendwie gelingt, lauf weg. Dieser Mann ist gefährlicher als alles, was dir hier im Sumpf passieren kann, Laura Ann. Wir werden dich finden.«
    »Er ist böse«, sagte sie wütend. »Wenn ich könnte, würde ich ihn aus dem Boot stoßen und den Alligatoren zum Fraß vorwerfen.«
    Kistle nahm ihr das Handy ab. »Charmant, nicht wahr? Sie wird mir viel Vergnügen bereiten. Jetzt muss ich sie zu Bonnies Zufluchtsstätte bringen. Ihr kleines Mädchen fühlt sich ganz einsam, meinen Sie nicht auch?« Er beendete das Gespräch. »Was für ein boshaftes Ding du doch bist.« Er nahm das Ruder wieder. »Du enttäuschst mich immer wieder, aber das wird sich noch ändern, da bin ich mir ganz sicher.«
    Lauf weg.
    Er ist gefährlicher als der Sumpf.
    Er hatte sie nicht wieder gefesselt.

Weitere Kostenlose Bücher