Die Knochenleserin
geschehen. Es fällt mir schwer, die Stimmen auszublenden.«
»Stimmen?«, flüsterte Eve.
»Aber die haben nichts mit Kistle zu tun. Zumindest nehme ich das an.« Megan schaute aufs Wasser hinaus. »Ein Mann ist ungefähr zwei Kilometer hinter uns ertrunken. Nach einem Herzinfarkt ist er aus dem Boot gefallen. Seine Frau war bei ihm und ist ins Wasser gesprungen, um ihn zu retten, aber es war schon zu spät. Sein Name war Ray Ebert. Sie hat die ganze Zeit geschrien: ›Ray Ebert, du musst atmen. Hörst du mich? Ray, komm wieder zurück.‹« Sie drehte sich zu Joe um. »Natürlich werden Sie jetzt denken, dass ich heute Nachmittag im Hotel Zeit genug hatte, um die tragischen Fälle zu recherchieren, die sich in diesen Sümpfen abgespielt haben.«
»Kann sein.«
»Denken Sie, was Sie wollen. Es ist mir egal.« Sie erschauderte, als ein Alligator von einer Sandbank, an der sie vorbeifuhren, ins Wasser glitt. »Bis heute Abend habe ich nie über Alligatoren nachgedacht. Eins von den Viechern hat hier ganz in der Nähe einem Jugendlichen ein Bein abgerissen. Sein Kumpel hatte ihn dazu überredet, ins Wasser zu springen – es sollte eine Mutprobe sein. Der Alligator lauerte nicht einmal fünf Meter entfernt unter Wasserlilien.«
»Und er ist nicht gestorben?«, fragte Eve.
»Jedenfalls nicht hier. Vielleicht werde ich Laura Ann ja hören, falls sie verängstigt genug ist. Gott, ich kann es nur hoffen.«
Joe schaute sie nachdenklich an, aber zum ersten Mal kam ihm keine sarkastische Bemerkung über die Lippen. Er schaltete den Motor ab und nahm ein Ruder. »Ja, das tun wir alle.«
»So, da sind wir, Laura Ann.« Kistle machte das Boot hinter einer Sumpfzypresse fest und sprang ans Ufer. »Komm mit. Es ist noch weit, und es warten die Leut’. Ist das nicht von Dr. Seuss? Kinder mögen ihn, oder? Was ist, kriege ich keine Antwort? Ich kann es nicht leiden, wenn man mich missachtet.«
»Dr. Seuss ist was für kleine Kinder«, erwiderte Laura Ann. »Letztes Jahr habe ich alle meine Dr.-Seuss-Bücher meiner kleinen Kusine geschenkt.«
»Wie lieb von dir. Aber es gibt Sachen in seinen Büchern, die mir sehr gut gefallen. Was ist mit der Geschichte von der leeren Hose? Macht so was einem Kind nicht schreckliche Angst?«
»Nein. Das ist doch bescheuert.«
»Wie mutig du bist.« Er kniete sich hin und zog sie neben sich auf den Boden. »Schau mal da hinten. Siehst du all die Bäume und Sträucher, die aussehen, als würden sie aus dem Wasser wachsen?«
»Ja.«
»Hinter diesen Bäumen befindet sich so eine Insel wie diese hier. Niemand weiß, dass es sie gibt. Es ist mein Geheimnis. Ich kann da drüben am Ufer stehen und alles sehen, was auf dieser Insel hier passiert, und niemand kann mich sehen. Willst du wissen, warum ich dir das alles erzähle?«
»Das interessiert mich überhaupt nicht«, gab sie trotzig zurück.
»Ich glaube doch, dass dich das interessiert. Weil du auf einer dieser Inseln sterben wirst. Du musst raten, auf welcher. Vielleicht ist es die, auf der du gerade kniest. Kinder können sich überhaupt nicht vorstellen, wie schrecklich der Tod sein kann. Wie kann ich dir das nur begreiflich machen …? Fehlt dir deine Mama? Du wirst sie nie wiedersehen.«
Mama!
»Aha, das hat gesessen, du kleines Miststück«, murmelte er. »Bekommst du es jetzt doch langsam mit der Angst zu tun?«
Sie hatte schon die ganze Zeit Angst. »Es kommt jemand und holt mich.«
»Sollen sie es ruhig versuchen.« Er stand auf. »Ich lass dich jetzt hier. Du kannst schreien, wenn du willst. Es wird sie auf dich aufmerksam machen.«
Hoffnung keimte in ihr auf. »Sie gehen weg?«
»Nur für eine Weile.« Er lächelte. »Aber ich komme wieder zurück. Ich werde es mir nicht entgehen lassen, mit dir zu spielen. Vielleicht wird das ja der Höhepunkt des Jahres.« Er gab ihr eine Taschenlampe. »Hier hast du eine Lampe, damit du nicht so allein bist und Eve den Weg zu dir zeigen kannst. Sorg dafür, dass sie immer eingeschaltet bleibt.« Er ging zu seinem Boot zurück. »Geh nicht zu nah ans Wasser. Ich habe tagsüber ein paar Alligatoren auf der Sandbank ein Sonnenbad nehmen sehen. Es wäre doch jammerschade, wenn sie dich fressen würden.«
Laura Ann schaute ihm nach, als er davonruderte und in der Dunkelheit verschwand.
Sie war allein.
Er war weg.
Und Eve würde bald hier sein und sie mitnehmen. Das hatte sie ihr versprochen. Sie brauchte nur hier sitzen zu bleiben und zu warten. Sie schaltete die Taschenlampe
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