Die Knochenleserin
keinen Frieden. Ich lebe und muss wieder ein Leben für mich finden.«
»Na ja, meins können Sie nicht kriegen. Ich habe Joe.«
Er schwieg einen Moment. »Und hat Ihr Joe Träume von Bonnie?«
»Wie sollte er? Er hat sie doch gar nicht gekannt.«
»Aber er lebt jetzt schon so lange mit Ihnen zusammen. Eigentlich müsste es doch so sein.«
Sie schüttelte den Kopf. »Mir hat mal jemand erklärt, dass das so nicht funktioniert. Man muss sich sehr öffnen, um Dinge zu akzeptieren zu können, die völlig … außergewöhnlich sind.«
»Wirklich? Wer hat Ihnen das erzählt?«
Bonnie.
Sie zuckte die Achseln. »Ich kann mich nicht mehr erinnern.«
»Megan? Mit so was müsste sie sich ja eigentlich gut auskennen?«
»Ich weiß es nicht mehr.«
»Und was kann diese Offenheit auslösen? Kummer? Verzweiflung? Oder vielleicht eine mediale Sensibilität wie die von Megan?«
»Ich will nicht länger darüber reden, Montalvo.«
»Ich weiß. Aber ich finde es interessant, eine weitere Brücke zu entdecken, über die wir gemeinsam gegangen sind. Wir scheinen doch immer wieder neue Gemeinsamkeiten zu entdecken, nicht wahr?«
Ja, er hatte recht, und es war das Letzte, was sie wollte. »Die einzige Sensibilität, auf die wir uns jetzt konzentrieren müssen, ist Megans Fähigkeit als Medium.« Sie trank ihren Kaffee aus und stellte die Tasse ab. »Und Sie sind ja nicht mal sicher, ob sie diese Fähigkeit überhaupt besitzt.«
»Ich lasse mich gern überzeugen. Quinn nicht.« Er lächelte. »Sehen Sie denn nicht, wie gut wir zusammenpassen?«
»Nein. Und ich habe auch keine Lust mehr, darüber zu reden.«
»Sie sollten aber darüber reden. Nicht weil ich mir davon einen Vorteil erhoffe. Aber ich glaube, Sie haben Schuldgefühle, weil Sie etwas für mich empfinden.« Sein Lächeln verschwand. »Wir werden in dem Glauben erzogen, dass man nur einen Menschen lieben darf. Dabei gibt es so viele Menschen, die im Laufe der Zeit in unser Leben treten und wieder gehen. Gute Menschen, wertvolle Menschen, interessante Menschen. Die meisten bleiben eine Weile und ziehen dann wieder weiter. Einige finden einen Platz in unserem Herzen, wenn wir es zulassen, und bereichern unser Leben. Kapseln Sie sich doch nicht ab vom Rest der Welt, Eve. Wenn Sie jemanden finden, der Ihnen dazu verhilft, ein bisschen mehr zu verstehen, der Sie ab und zu zum Lachen bringt, Ihnen eine neue Erfahrung ermöglicht, brauchen Sie kein schlechtes Gewissen zu haben. Dadurch können Sie sogar denjenigen, die Ihnen am nächsten stehen, wieder mehr geben.«
Sie sagte eine Weile nichts. »Großer Gott, Sie sind ja ein Philosoph. Das hätte ich gar nicht von Ihnen angenommen, Montalvo.«
»Hin und wieder denke ich einfach nach.« Er lächelte wieder. »Ich glaube wirklich, was ich sage, aber ich kann auch verstehen, warum Quinn versucht, Sie ganz für sich allein zu behalten. Ich würde dasselbe tun. Philosophie ist gut und schön, aber Männer stehen dem Neandertaler nun mal näher als Aristoteles.«
»Und Ihre Philosophie steht der Polygamie näher als der Monogamie«, entgegnete sie trocken.
»Eigentlich nicht. Ich rede nicht von Sex. Aber es wäre ein Wunder, wenn Sie in Ihrem ganzen Leben außer auf Quinn auf niemanden träfen, von dem Sie sich angezogen fühlten. Vielleicht nur einen Moment lang oder auch eine Stunde. Es geht dabei um eine chemische Reaktion, für die man sich nicht schämen muss. Aber das Leben ist eine Frage von Entscheidungen. Jeder hat seinen Kodex und entscheidet, was er nehmen und was er geben will. Und die einzige Möglichkeit zu verlieren besteht darin, sich abzukapseln und nichts an sich heranzulassen.«
Sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Sie empfand zu viel Nähe, verdammt. Sie hatte geglaubt, ihn schon gut zu kennen, lernte jedoch immer mehr über ihn. Er hatte gesagt, sie seien sich ähnlich, aber er war tausendmal offener und aufgeschlossener als sie. Vielleicht hätte sie sich nicht so zurückgezogen, wenn Bonnie noch lebte, aber so hatte sie sich hinter einem Schutzwall verschanzt und lebte fast nur noch für ihre Arbeit. Wie es wohl wäre, sich mehr zu öffnen, zu berühren, zu fühlen und zu erleben?
Sie stand auf. »Ich habe mich vor langer Zeit entschieden, und zwar für Joe. Und ich bin eine altmodische Monogamistin. Deshalb kann ich mich nur öffnen, wenn er dabei ist. Wir sehen uns später, Montalvo.«
»Nun laufen Sie doch nicht weg.« Er stand auf und warf ein paar Geldscheine auf den Tisch. »Wenn
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