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Die Knochentänzerin

Die Knochentänzerin

Titel: Die Knochentänzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz-Josef Körner
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tat, wühlten meine Hände herum. Ich begriff auch nicht, dass das, was ich nun umklammerte, tatsächlich der Nagel war. Ich spürte nur etwas Schmales, Langes, Kaltes zwischen meinen Fingern.
    »Hast du … ihn?«
    »Ihr seid mein Vater!«, brach es nun aus mir heraus. »Ich kann doch nicht …«
    »Mein Rücken … die Peitsche … hat alles zerfetzt … von dort treibst … du mir den Nagel ins … Herz. So können sie es … nicht sehen. Sie werden denken … ich bin einfach so … gestorben. Dir kann nichts … geschehen.«
    Mit einem Mal hatte ich keine Tränen mehr, als wäre ein bitterer Quell versiegt. Doch mein Herz krampfte sich zusammen, wie von einer eisernen Faust umschlossen. Ich beugte mich vor, und meine Arme schlangen sich um ihn, sein blutiger Schädel an meiner Brust. Er stöhnte auf, aber ich spürte, wie etwas in ihm losließ, als würde er sich in meiner Umarmung unbeschützt ergeben. Nun kam unvermittelt die Liebe zurück, wie eine mächtige Woge. Alles Vergangene war ausgelöscht. Wir waren eins.
    »Vater«, flüsterte ich und hielt ihn in den Armen.
    »Es ist … genau … die richtige … Stelle.«
    »Was?«, fragte ich und wusste es im selben Augenblick. Meine Hand auf seinem Rücken lag dort nicht flach. Ich hatte sie zur Faust geballt. Darin hielt ich den Nagel.
    »Stoß zu!«
    Meine Finger tasteten sich am Eisen entlang. Der Nagel war beinahe doppelt so lang wie meine Hand. Alles geschah, ohne dass ich darüber nachdachte. Ich wusste nur eins: dass ich meinen Vater endlich gefunden hatte und dass ich ihn liebte. Ich wiegte ihn in den Armen wie eine Mutter ihr Kind. Und nun tauchte plötzlich doch wieder ein Bild aus der Vergangenheit auf – absurderweise musste ich an das Lämmchen denken, das ich in Icolmkill zuerst in den Armen gehalten und dann geschlachtet hatte.
    »Stoß zu … so fest du kannst.«
    Ruhe breitete sich aus. Sie ging von seinem Körper aus und nahm meinen in Besitz. Ich konnte förmlich spüren, dass in dieser Ruhe nicht Aufgabe lag. Etwas Uraltes, Ursprüngliches wohnte ihr inne – eine Zufriedenheit, als wären wir an ein lang ersehntes Ziel gelangt.
    »So fest du … kannst.«
    Ich nickte. Dann flüsterte ich ihm zu, was ich empfand: »Vater ich liebe dich. Ich liebe dich.« Ein kurzer Ruck ging durch seinen Körper, als der Nagel ihn durchbohrte. Er seufzte wie nach einem Liebesakt. Dann lag er still und friedlich in meinen Armen. Wie lange? Ich weiß es nicht.
    Irgendwann zog ich den Nagel aus seinem Herzen und löste mich von ihm. Meine Hand war nass und klebrig vom Blut aus seiner Wunde. Ich bettete ihn so, wie ich ihn gefunden hatte. Es sah aus, als schliefe er, zusammengekauert wie ein Kind. Der Wächter kam, schloss das Gitter auf und würdigte weder mich noch den Leichnam meines Vaters eines Blickes. Mit dem Nagel unter den Gewandfalten versteckt stieg ich aus der Dunkelheit der Katakomben hinauf ins gleichgültige Licht. Venedig sonnte sich in seinem Reichtum und seiner Selbstgefälligkeit. Ich presste die Lippen zusammen und trat hinaus auf die Piazza San Marco.
    Ich hatte meine Mutter getötet. Und nun auch meinen Vater.

59
    Was die Mutter an die Tochter weitergab …
    K arl der Vierte, Kaiser des deutschen und römischen Reiches, saß eingerahmt vom Prager Erzbischof Ernst von Pardubitz, seinem Kanzler, einem Sekretär und Dombaumeister Peter Parler auf dem goldenen Stuhl im Festsaal des Dogenpalasts. Soeben hatte der Große Rat in seiner Anwesenheit Marino Faliero und zehn Mitverschwörer zum Tode verurteilt, wie ungewöhnlich auch immer dieses Vorgehen unter den Augen des Kaisers sein mochte. Es war jedenfalls rechtens, Venedig verfügte über seine eigene Gerichtsbarkeit, und der
consiglio dei dieci
war als Organ der Legislative mit der Befugnis ausgestattet, Todesurteile zu verhängen.
    Dennoch fiel es Karl immer noch schwer, dies alles zu begreifen. Marino Faliero, zuletzt Doge von Venedig, war ein Verschwörer in seinem eigenen Reich, zudem Mordkomplize aus niederen Motiven? Mit Falieros Hilfe war Pietro Dandolo ermordet worden, und es gab nur einen einzigen Grund dafür: Er wollte den Widersacher beseitigen, um selbst Doge zu werden.
    Nach der Verhandlung, als beinahe alle
dieci
den Saal verlassen hatten, bat Karl einen der Verbleibenden um ein Gespräch. Der Senator, ein schöner, dunkelhaariger Mann, stellte sich als Gentile Ferro vor und erklärte sich höflich bereit, alle Fragen des Kaisers zu beantworten, soweit ihm dies möglich

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