Die Knopfkönigin: Historischer Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
entstammten dem Umfeld Qalawuns und ließen daher ihre inhaftierten Kameraden umgehend befreien. Im Zuge dieser Befreiung wurde auch der Fall Henris untersucht, und er wurde zu einer Befragung in den Palast geholt. Zum ersten Mal seit zwei Jahren sah er an diesem Tag Himmel und Sonne wieder.
Die Emire und ihre Ratgeber hatten eine Papyrusrolle vor sich ausgebreitet, auf der bereits der gesamte Sachverhalt festgehalten war. Ein Übersetzer stellte ihm Fragen zu seiner Herkunft und seiner Laufbahn, die er wahrheitsgetreu beantwortete. Zu seiner Verwunderung sprach man mit ihm jedoch plötzlich über seinen Adoptivsohn Chalil.
VENEDIG Frühjahr 1302
»Die beiden Jahrzehnte vor dem Angriff der Mamelucken waren keine schlechte Zeit gewesen«, erzählte Henri weiter. »Aufgrund der langen Anwesenheit der Europäer hatten ihre einstigen Gegner sich inzwischen längst mit ihnen arrangiert, und man begann, gegenseitigen Nutzen aus der Anwesenheit des anderen zu ziehen. Der Adel beider Seiten pflegte gesellschaftlichen und freundschaftlichen Austausch. Es gab Turniere, Bankette und Falkenjagden, an denen bisweilen sogar der Sultan Baibar und sein Sohn Berke-Qan teilnahmen, der später von Qalawun gestürzt wurde. Auch Qalawun setzte in seinen ersten Regierungsjahren diese Friedenspolitik fort, bis er sich von den mongolischen Ilchanen im Norden und Osten bedroht fühlte und gleichzeitig die Schwächen der Europäer offensichtlich wurden.
Qalawun hatte wie die meisten orientalischen Fürsten eine nahezu unüberschaubare Anzahl von Geschwistern und Halbgeschwistern, die er mit Posten und Privilegien versorgte. In seinen ersten Regierungsjahren gab es sogar vereinzelt Eheschließungen zwischen Europäern und Mamelucken. Einige junge Kreuzrittersöhne waren am Hof Baibars erzogen worden. Einer von ihnen, Romuald von Wartenfeld, war als neunjähriger Knabe direkt aus Deutschland nach Ägypten gekommen. Er fand am Hof des Sultans sein wahres Zuhause und genoss die gleiche Erziehung wie die Fürstensöhne. Nach dem frühen Tod seiner leiblichen Eltern entschied er sich, in Ägypten zu bleiben, und trat zum islamischen Glauben über. Qalawun schätzte den jungen Mann sehr und gab ihm eine seiner jungen Schwestern zur Frau. Romuald, der in beiden Kulturen zu Hause war, sollte sich mit seiner Familie in Akkon als einfacher Bürger ansiedeln und Qalawun berichten, wann immer sich Wichtiges ereignete. Leider verstarb er früh, und seine Witwe lebte fortan allein mit ihrem kleinen Sohn in der Festungsstadt.«
Karl hatte aufmerksam zugehört, während Henri berichtete. Nach einem kurzen Räuspern sprach der Ritter weiter. »Diese Frau, die bei einem Überfall durch Söldner getötet wurde, war deine Mutter Fathma, eine leibliche Schwester Qalawuns. Du bist ein Prinz und Vetter des ägyptischen Sultans, mein Sohn Chalil.«
Maria ließ einen kleinen Überraschungsschrei hören. Ihr Blick ging zwischen Vater und Stiefbruder hin und her. Karl, den sonst selten etwas aus der Ruhe brachte, starrte Henri an. Ein Prinz, Vetter eines Sultans sollte er sein? Oft hatte er als Kind über seine Familie gerätselt. Er hatte dabei aber immer an eine Dynastie von Bankern oder Kaufleuten geglaubt und sich viele abenteuerliche Geschichten ausgedacht. Seine Mutter hatte ihm die Wahrheit nie erzählt. Sicherlich hatte sie Gründe dafür, dachte er nun, aber vielleicht warer damals auch noch zu klein gewesen und die Lage in Akkon zu gefährlich. Henri erzählte weiter.
Sultan an-Nasir, ein aufgeweckter und verantwortungsbewusster junger Mann, war begierig, alles über den Rest der Welt zu erfahren, fremde Sprachen zu erlernen und ferne Länder zu besuchen. Die Emire beschlossen, Henri aus dem Kerker zu entlassen und ihn als seinen Lehrer einzusetzen.
Die Tatsache, dass Henri in den Wirren des Krieges uneigennützig einen königlichen Verwandten bei sich aufgenommen und als hilfloses Kind adoptiert hatte, hatte ihm das Leben gerettet. Qalawuns und Chalils Geheimdienste hatten sorgfältig gearbeitet und ihren Herren darüber berichtet. Nun sorgte diese Tat dafür, dass er die Haft verlassen und eine neue Existenz aufbauen konnte. Anfangs durfte er Kairo nicht ohne Erlaubnis des Sultans verlassen, doch er konnte sich als freier Mann bewegen, bewohnte ein geräumiges Gemach im Komplex des Palastes und wurde ausreichend entlohnt. Er empfing viele Europäer, die Kairo besuchten, und baute sich langsam und vorsichtig ein Netzwerk aus Nachrichtenträgern
Weitere Kostenlose Bücher