Die Knopfmacherin
ihnen allen vorbei. Dass sie die scheelen Blicke nicht bemerkte, bezweifelte Joß Fritz. Wahrscheinlich prasselten sie auf das Mädchen ein wie ein Pfeilhagel.
Der Anblick ihres verweinten Gesichts ließ ihn auf einmal jeden Unmut vergessen, den er in den vergangenen Tagen verspürt hatte. Es war richtig, dass ich hiergeblieben bin, sagte er sich. Wenigstens einen Trost soll das Mädchen haben.
»Was ist denn nun mit der jüngsten Tochter?«, bohrte die erste Frau nach, als der Karren an ihnen vorüber war.
»Sie soll mit den Rebellen gegangen sein. Freiwillig. Meister Fassbender ist zu Ohren gekommen, dass der Mörder ihr Geliebter war. Richtig mannstoll soll die Kleine gewesen sein, jedenfalls hat der Vater wohl mehrfach darüber geklagt. Da seht ihr, wozu es geführt hat.«
Den Frauen standen die Münder offen. Mit dieser Nachricht hatte ihre Bekannte den Vogel abgeschossen.
Zorn überflutete Joß wie eine Welle. Am liebsten hätte er der Urheberin dieser Lüge eine schallende Ohrfeige verpasst. Aber wahrscheinlich trug die Frau nicht einmal Schuld daran, sondern der Kerl, der damit angefangen hatte.
Bevor er noch mehr Lügen mit anhören musste, die ihn in Rage versetzten, schloss er sich dem Trauerzug an.
Aufgescheucht vom Klang der Totenglocke flatterten die Krähen aus den Bäumen auf und kreisten krächzend über dem Kirchhof von Udenheim. Melisande legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und spürte den Wind, der ihr über die Wangen strich.
Nur wenige Leute hatten sich auf dem Kirchhof eingefunden. Und selbst die hielten Abstand von Melisande, als wäre sie eine Aussätzige.
Zu ihrer großen Enttäuschung hatte sich niemand von der Knopfmacherzunft sehen lassen. Nicht einmal die Sargträger waren von ihnen gestellt worden. Das Gerücht, die Familie habe Verbrecher beherbergt, hatte rasch die Runde gemacht. Niemand wollte Melisande Glauben schenken, dass es sich anders verhalten hatte.
Wütend ballte sie die Faust, dann öffnete sie die Finger wieder und betrachtete den Knopf, den ihr Vater ihr gegeben hatte.
Werden die Leute den Knopf wiedererkennen? Melisande machte sich keine Illusionen. Für sie und ihren Vater waren Knöpfe das Wichtigste im Leben. Wenn ihnen ein Mensch gegenübertrat, betrachteten sie zunächst die Knöpfe an Wams und Ärmeln. Doch was war mit ganz gewöhnlichen Menschen? Sie konnten vielleicht sagen, ob ein Knopf golden oder aus Horn war. Aber wie genau sahen sie hin? Konnten sie die Mühe erkennen, die der Knopfmacher darauf verwandt hatte, diesen kleinen, unbedeutend scheinenden Teil der Kleidung herzustellen? Oder würden sie von den prachtvollen Borten oder Stoffen davon abgelenkt?
Als der Pfarrer mit dem Vaterunser begann, schreckte Melisande aus ihren Gedanken hoch und sprach mechanisch mit. Die Särge wurden nacheinander in die Grube gelassen, zuerst der ihres Vaters, dann der ihrer Mutter. Die Tränen, die ihr übers Gesicht liefen, bemerkt Melisande nicht mehr. In Gedanken war sie nun wieder bei dem unverschämten Stadtvogt und seiner ungeheuerlichen Behauptung. Die Hilflosigkeit griff nun ebenfalls nach ihr. Dieser Knopf ist meine einzige Spur. Warum schickst du mir bloß so eine schlechte Spur, Gott? Warum keinen Namen oder ein Schriftstück, etwas, womit ich mehr anfangen kann?, fragte sie stumm.
Nach der Beerdigung zogen sich die Trauergäste leise zurück. Der Pfarrer hätte ihr eigentlich Trost zusprechen müssen, doch wegen der Unterredung am Morgen war er noch immer verstimmt. Auch die anderen Anwesenden wirkten eher so, als wollten sie jeden Kontakt zu ihr vermeiden.
Was ist nur los?, dachte Melisande. Warum ist alle Welt plötzlich gegen mich? Noch vor einer Woche hatte jeder ihren Gruß erwidert. Jeder hatte mit Achtung von ihrem Vater gesprochen. Machte der Tod dies alles so schnell vergessen?
Der Tod nicht, aber Fassbender und der Stadtvogt. Wer weiß, welche Lügen sie noch über ihre Eltern und ihre Schwester verbreitet hatten.
Während die Totengräber ihre Arbeit verrichteten, blieb Melisande allein am Grab stehen. Ihr Verstand war wie leer gefegt, all die Zuversicht, die sie gegenüber dem Pater zur Schau gestellt hatte, war dahin. Sie wusste nicht, wie sie das Geschäft ihres Vaters allein aufrechterhalten sollte. Ein paar Aufträge hatten sie noch, aber würden sich die Kunden damit zufriedengeben, wenn sie die Knöpfe fertigte? Und was war mit der Probearbeit, die der Vater für den Zunftmeister der Messingknopfmacher anfertigen
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