Die Knopfmacherin
Wolltuch, ein Kleid, ein Nachthemd und die Schatulle mit ihren Knöpfen in ein Tuch und band es zusammen mit etwas Proviant zu einem Bündel.
Da sie wusste, wo ihr Vater das Geld aufbewahrte, holte sie die kleine Schatulle aus der Schlafkammer. Die fünfzehn Taler, die sie darin fand, würden ihr sicher eine Weile helfen zu überleben.
Anschließend ging sie noch einmal in die Werkstatt. Obwohl der Arbeitstisch aufgeräumt und der Boden gefegt waren, wirkte es, als würde er jeden Augenblick durch die Tür schreiten und fordern, dass sie sich an ihren Platz begeben sollte. Die Gewissheit, dass er niemals mehr kommen und die Werkzeuge zur Hand nehmen würde, versetzte Melisande einen schmerzhaften Stich, doch sie wich nicht zurück. Sie wollte den Anblick des Raumes in sich aufsaugen, damit sie ihn zeitlebens nicht vergaß. Damit sie nicht vergaß, was ihre Aufgabe war.
Eigentlich hatte sie nichts weiter mitnehmen wollen als das Bündel an ihrem Arm, aber dann konnte sie der Versuchung nicht widerstehen. Vater wollte, dass ich seine Werkstatt weiterführe, überlegte sie. Vielleicht gelingt es mir, eines Tages sein Handwerk fortzusetzen, und bis dahin sollen die Werkzeuge nicht irgendwelchen Dieben in die Hände fallen.
Sie stellte das Bündel ab und ging zu dem Kasten, der die Knopfmacherwerkzeuge enthielt. Bohrer, Messer, das Stanzeisen und die kleine Säge, mit der sie die Knopfrohlinge aus rund gedrechselten Holzstäben geschnitten hatten. Sie packte alles in ein ledernes Futteral und fügte es dem Bündel hinzu. Es wurde dadurch wesentlich schwerer, aber das war eine Last, die Melisande gern auf sich nahm.
Ein helles Lachen unterbrach sie kurz in ihrer Tätigkeit. Alina? Schon wollte sie den Namen ihrer Schwester rufen, als ihr wieder einfiel, dass sie es nicht sein konnte. Stattdessen sah sie ein paar Kinder am Werkstattfenster vorbeilaufen.
»Ich werde Alina finden, Vater«, flüsterte Melisande. »Und ich werde euch rächen.«
Da sie vorhatte, die Nachbarin zu bitten, nach der Werkstatt zu sehen, nahm sie die Messingknöpfe mit, die ihr Vater an seinem Todestag vollendet hatte. Sie waren recht wertvoll, aber Melisande wollte sie nicht mehr im Haus haben. Dann schulterte sie ihr Bündel und verließ das Haus.
Als sie die Haustür verriegelte, tauchte Agathe Markward, die Tuchmacherfrau, vor dem Gartenzaun auf.
»Wohin des Wegs, mein Kind?«, fragte sie und zog eine mitleidige Miene. »Willst du nicht heute zum Mittagsmahl zu uns rüberkommen?«
»Ich danke Euch, aber ich muss dieses Angebot leider ausschlagen«, antwortete Melisande kühl. War Agathe unter den Trauergästen gewesen? Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie nicht weiter darauf geachtet hatte. »Ich werde eine Zeitlang fortgehen und eine Anstellung suchen. Mein Vater möchte, dass ich seine Werkstatt fortführe, doch dazu muss ich noch einiges lernen. Ich werde mir also einen Lehrherrn suchen und dort eine Weile arbeiten.«
Die Nachbarin sah sie an, als stünde sie einer Verrückten gegenüber. »Du willst die Werkstatt deines Vaters übernehmen?«
»Selbstverständlich. Ich habe es ihm kurz vor seinem Tod versprochen!«
»Nun ja, aber ist es denn schicklich, dass ein Mädchen so ganz allein ein Handwerk betreibt?«
»Was sollte daran unschicklich sein?«, entgegnete Melisande. »Die Knopfmacherei ist ein ehrbares Handwerk. Wenn ich erst einmal Meisterreife erlangt habe, werde ich die Werkstatt wieder eröffnen.«
Die Tuchmacherfrau schien an den Worten des Mädchens zu zweifeln. Die Zeit, sie zu überzeugen, wollte sich Melisande allerdings nicht nehmen.
»Erfüllt Ihr mir eine Bitte?«, fragte sie.
Agathes Mund klappte auf, ohne dass sie zunächst ein Wort hervorbringen konnte. Dann sagte sie: »Aber natürlich, mein Kind. Was soll ich für dich tun?«
»Schaut doch bitte hin und wieder in der Werkstatt nach dem Rechten. Zum Dank will ich Euch dies hier geben.«
Die Augen der Tuchmachersfrau weiteten sich, als Melisande ihr das Kästchen entgegenstreckte. »Was ist das?«
»Knöpfe«, antwortete Melisande. »Genau genommen Messingknöpfe. Mein Vater hat erst vor kurzem das Recht erworben, sie herzustellen. Nehmt sie ruhig, sie sind sehr schön geworden.«
Einen Moment lang zögerte Agathe. Glaubte sie, dass diese Knöpfe ihr Unglück brachten? Doch dann siegte die Gier und ihre knochendürren Finger schlossen sich um die Schachtel.
»Ich wünsche dir alles Gute, mein Kind«, sagte sie, während sie das Kästchen gegen die Brust
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