Die Koenigin der Schattenstadt
nicht nur Weiß. Was für den einen Gift ist, kann dem anderen süße Stunden bereiten.«
Jordi dachte an die schrecklichen Erlebnisse, deren Zeuge er geworden war, in Barcelona und anderswo.
Er erinnerte sich an die Gestalten mit den Harlekinmasken, die Mensch und Tier mit Finsternis angesteckt hatten. Er dachte an die Heere von Finsterfaltern und verwandelten Eidechsen, an die Fledermausschatten und die bleichen Schattenaugenmenschen.
Und er dachte an seinen Vater und das, was er im Leuchtturm getan hatte, um Jordi die Flucht zu ermöglichen.
»Es gibt es aber, das Böse«, sagte er mit fester Stimme. »Was ist mit den Harlekinen?«
Sie schnaubte. »Wir nennen sie die Flüsterer«, sagte sie. »Sie besitzen keine Körper mehr und die Gewissheit, dass dies so ist, macht sie ganz krank in Kopf und Herz und rasend vor Eifersucht.« Seufzend schaute sie ihn an. »Jordi, die Menschen haben von jeher Kriege geführt, haben versucht, neue Welten zu erobern, haben ganze Völker ausgelöscht. Genau das tun die Schatten jetzt. Sie erobern die Städte wie einst ihre Menschen. Ist deswegen aber jeder Mensch schlecht? Ist deswegen jeder Schatten böse?«
Jordi schüttelte verwirrt den Kopf, wollte etwas erwidern. Doch in dem Moment bog ein surrendes Fluggerät mit Propellern in die Gasse ein und fegte so dicht über ihre Köpfe hinweg, dass Jordi sich mit einem Sprung in einen Hauseingang retten musste, um nicht von den Füßen gerissen zu werden.
Das Fluggerät sah überhaupt nicht aus wie der Falke, mit seinen genieteten Metallteilen, den breiten Schwingen und den schrägen Raubvogelaugen. Aber Jordi fühlte trotzdem einen Stich.
Seit er Nuria getroffen hatte, hatte er nicht mehr an Kamino Regalado gedacht, an seinen Freund Kopernikus und Santiago Cortez, den Kapitän des Falken. Drüben beim Torre de Bélem, hoch in der Luft, waren sie alle vor Anker gegangen und von dort war er mit Kamino zu den flüsternden Märkten aufgebrochen. Ob sie den Falken noch rechtzeitig erreicht hatte? Er wusste es nicht. Andererseits – so wie er Kamino kennengelernt hatte, würde sie es mit jedem Schatten aufnehmen.
Ganz egal, ob nun gut oder böse.
Nuria war schon wieder vorausgeeilt, ohne eine weitere Erklärung zu bieten. Mittlerweile strömten immer mehr Menschen mit ihren Gepäckstücken durch die Straßen, manchmal mussten sie sich regelrecht einen Weg bahnen.
»Sie wissen nicht einmal, wohin sie fliehen sollen«, murmelte Nuria Niebla, als er sie wieder eingeholt hatte.
»Sie haben Angst«, sagte Jordi.
Mitleid schwamm in den Augen der Nebelhexe, als sie ihn von der Seite musterte, und etwas in ihrem Blick erinnerte Jordi so sehr an Catalina, dass er mit einem Mal kaum noch Luft bekam. Übermächtig wurde der Wunsch in ihm, jetzt bei dem Kartenmachermädchen zu sein, sie wiederzusehen, ihre Stimme zu hören.
Blind vor Verzweiflung tastete er nach dem Stein und sofort schlugen die Erinnerungen ihn in ihren Bann.
Er sah Catalina so deutlich vor sich, dass es schmerzte, sie nicht berühren zu können. Jede Einzelheit ihres Gesichts sah er, das er so lange vergessen hatte. Da war diese winzige Falte gewesen, die sich auf ihrer Stirn bildete, wenn sie wütend war, gleich über der Nase, die ganz kalt war, wenn sie sich fürchtete. Ihre grünen Augen, die manchmal blau schimmerten, wenn die Sonne sich in ihnen brach. Ihr Mund, der sich so entnervt verziehen konnte, wenn Jordi etwas Dummes gesagt hatte oder einfach nur, wenn sie ungeduldig war.
Fast war ihm, als könne er sogar den Geruch ihres Haars atmen, als sei sie jetzt bei ihm.
»Catalina«, flüsterte er. »Wo bist du nur?«
Plötzlich merkte er, wie die Menge vor ihm ins Stocken geriet. Um ihn herum blieben die Menschen stehen, ein Raunen wehte durch die Gasse.
»Seht nur«, rief ein Kind, das den Blick nach oben richtete.
»Was ist das?«, wisperte ein Mann in einer schmutzigen Uniform.
Dann sah Jordi es auch.
Ein gleißender, glitzernder Sternenschauer füllte plötzlich das nächtliche Firmament. Winzig helle Punkte besprenkelten die Dunkelheit wie schöne Träume aus einer anderen Welt. Sternfunken fielen zur Erde und erleuchteten die Gesichter der Menschen, die den Blick nicht mehr von ihnen lassen konnten.
Jordi dachte an Catalinas Augen, in denen er Sterne wie diese erblickt hatte, erinnerte sich an das Lachen, das sich so angehört hatte wie das Rauschen, mit dem die Sterne die nahende Dunkelheit in ein Wunder verwandelten.
Nuria war an seine Seite
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