Die Koenigin der Schattenstadt
nach vorn behindern konnte.
An Jordi zu denken, gab ihr Kraft. Sie hoffte, dass El Cuento ihn gefunden hatte. Sie vertraute dem Wind. Er war gewitzt und er würde den Lichterjungen zu beschützen wissen. Und dann? Catalina würde Jordi wiedersehen, irgendwo. Sie würden einander über den Weg laufen. Und dann würde sie ihn nicht wieder gehen lassen. Das war der Gedanke, der ihr Zuversicht gab.
Die Rankenwurzel bewegte sich.
Nach oben.
Schnell!
»Rosenefeu«, flüsterte Catalina.
Die Rankenwurzel zog sie mit aller Macht in die Höhe, dem Licht entgegen. Tief hinter sich hörte Catalina ein Geräusch, das sich fremd anhörte wie etwas, das erfroren war und zu zirpen versuchte. War das der Harlekin? Konnte er ihr überhaupt bis hierhin folgen?
Natürlich kann er das! Er ist ein Schatten. Dies hier ist das Tor zu seiner Stadt.
Die Angst trieb sie vorwärts.
Weiter und weiter.
Bis sie endlich das Ende des Schachts erreicht hatte, sich hochzog und über den Brunnenrand stemmte. Miércoles schoss an ihrer Seite ins Freie, und während sie noch die sanfte Berührung seiner Flügel an ihrer Wange spürte, ließ sie sich einfach fallen und blieb erschöpft im Sand neben dem Brunnen liegen. Atemlos schnappte sie nach Luft und rieb sich den Schmutz aus den Augen.
»Wir sind da«, hörte sie eine Stimme sagen, die wieder die Stimme des alten Kartenmachers war, genauso, wie er sich angehört hatte, als er in der Windmühle von Montjuic gelebt hatte.
Catalina sah auf und fischte sich eine Strähne des schmutzigen Haares aus dem Gesicht. Miércoles hockte neben ihr im Sand und faltete die Flügel zusammen.
»Komm hoch, Catalina«, drängelte Márquez. Sie konnte ihm ansehen, dass er ihr am liebsten aufgeholfen hätte. Es quälte ihn, dass ihm das ohne seinen Körper nicht möglich war.
Sie rappelte sich auf und schaute sich um.
Der Brunnen mit dem Rosenefeu sah anders aus, irgendwie. Wie eine schöne Zeichnung, und doch lebendig. Noch immer wachte die Drachenfigur über dem Brunnen, aber ihr Gesicht war nicht länger streng und Furcht einflößend, sondern freundlich.
Alles hier wirkte fremd und dann wieder ganz vertraut. Der Himmel über der Stadt war hell und hatte die Farbe von brüchigem Pergament. Die Galeonen und Finsterfäden waren verschwunden.
»Willkommen in der Schattenstadt«, sagte Márquez gehetzt.
Catalina nickte und ein ungläubiges Staunen verdrängte für einen Moment jede Furcht in ihrem Herzen.
Denn das, was sie um sich herum erblickte, war keine gewöhnliche Stadt. Sie wusste nicht einmal, was genau es war. Sie erkannte Häuser, die aussahen, als habe man sie aus Lisboa gestohlen. Die Pflanzen, die hier lebten, waren grün und grau und blau und rot und die meisten von ihnen sahen aus, als habe jemand sie sorgfältig angemalt.
Der Chafariz befand sich inmitten eines Platzes, der Catalina bekannt vorkam, aber er lag mit Sicherheit nicht in Lisboa. Der Port de les Glòries, wie er genannt wurde, war eine kunterbunte Ansammlung von Stegen und Stelzenhäusern, Lagerhallen und Balkonen in Barcelona. Auf ihrer Flucht mit den Flickenfetzen waren Catalina und Jordi genau an diesem Platz vorbeigekommen. Doch was tat er hier, mitten in der Schattenstadt?
Drüben, wo in Barcelona Eixample mit seinen Geschäften lag, ragte ein mächtiger Turm aus dem feinen Netzwerk ausgetrockneter Kanäle, in denen Schiffe und Dampfkarawellen ankerten, rostig und auf die Seite gekippt.
War das nicht der Torre de Bélem, das Wahrzeichen von Lisboa?
Andererseits gehörte die riesige runde Säule, die hinter den Häusern mit den Mosaikwänden in den Himmel ragte, eindeutig nach Barcelona. Sie stellte den berühmten Entdecker Kapitän Colom dar, Catalina war oft auf dem Weg ins Farbengeschäft an ihr vorbeigekommen.
Verwirrt drehte sie sich einmal auf dem Absatz um. Jenseits des Platzes ragte ein zinnenbewehrtes Gebäude auf. Catalina kam es vage bekannt vor und endlich wusste sie, dass sie es schon einmal auf einer Zeichnung gesehen hatte. Es war die Seidenbörse von Valencia.
»Alles ist durcheinander«, sagte Catalina.
Miércoles schwieg.
Und Márquez antwortete nur: »Ich weiß.«
Das Firmament war zerknittertes und vergilbtes Papier. Und die Türme der Sagrada Família überragten die Häuser, von denen manche aussahen wie nichts, was Catalina jemals zuvor erblickt hatte.
»Komm«, drängte sie der alte Kartenmacher.
Ein schriller Schrei zerschnitt die Stille.
Miércoles fauchte.
»Der Flüsterer!«,
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