Die Koenigin der Schattenstadt
auf.
Vor Wut, Verzweiflung und Trotz.
Und dann rutschte ihre Hand ein letztes Mal ab und sie begann zu fallen, in ein tiefes, bodenloses Nichts.
Nicht einmal schreien konnte sie.
Sie dachte an den Harlekin.
Sie dachte an Nuria.
Sie dachte an Jordi.
Dann dachte sie an nichts mehr. Oder an alles. In ihrem Kopf war Leere und gleichzeitig ein Wirbel von Gedanken und Gefühlen.
Wie ein Stein sauste sie in die Tiefe, drehte sich wild um die eigene Achse, zumindest glaubte sie das. Es fühlte sich so an wie eine Drehung, die unten zu oben und oben zu unten macht. Sie wirbelte herum und mit einem Mal spürte sie den Flügelschlag des Katers wieder dicht neben sich.
Wie von Geisterhand bekam sie erneut die Rankenwurzel zu packen. Sie war jetzt wieder dicker und die Dornenansätze und die Blätter, die sie griff, fühlten sich an wie die Blätter und die Dornenansätze, die sie weiter oben ertastet hatte, die aber im Laufe des Abstiegs verschwunden waren.
Catalina warf einen hastigen Blick nach unten. Zumindest glaubte sie, dass es unten war, denn in dieser Richtung baumelten ihre Füße. Doch das runde Licht dort sah genauso aus wie der Eingang zum Brunnenschacht, oben am Largo do Chafariz.
Sie stutzte.
Nein, das konnte nicht sein. Oder doch?
Sie war von oben nach unten geklettert, zweifelsohne. Also musste sich der Brunnenschacht noch immer über ihr befinden.
Tat er aber nicht.
Sie vergewisserte sich. Und nein – sie täuschte sich nicht.
Die Öffnung des Brunnens war jetzt unter ihr. Wenn sie ihre Augen zusammenkniff, konnte sie sogar die Drachenharpyie sehen, die nun nicht mehr himmelwärts ragte, sondern nach unten in die Tiefe. Sie erkannte gewaltige Wolkengebilde, die unten in der Tiefe entlangzogen, und dann fiel ihr Blick auf den dicken Bauch einer fliegenden Galeone. Aber sie sah ihn von unten! Herrje, sie sah die Unterseite der Galeone, die hoch oben über der Alfama schwebte und die Stadt mit Finsternis bombardierte.
Oben und unten waren vertauscht.
Ja, nur so konnte es sein.
Catalina kletterte verkehrt herum weiter. Mit dem Kopf nach unten an der Rankenwurzel entlang, doch für sie war es ein Aufwärtsklettern. Alles war verdreht worden.
Wie das möglich war? Sie hatte nicht die geringste Ahnung.
Ein Gefühl des Schwindels befiel sie, wie vor zwei Tagen, als sie von der Gezeitengondel zur Sagrada Família gebracht worden war.
Die Welt war verdreht, das war geschehen.
Wann genau sie die Perspektive gewechselt hatte, wusste sie nicht zu sagen. Es musste in dem Moment abgrundtiefer Finsternis geschehen sein, in dem sie nichts, aber auch wirklich gar nichts mehr erblickt hatte und die Stille übermächtig geworden war. Jener Moment, bevor sie gefallen war.
Plötzlich kamen ihr die Worte des Kartenmachers in den Sinn: Die eine Seite des Blatts Papier zeigt die Welt, die man kennt, und die untere Seite des Blatts Papier zeigt etwas anderes. Etwas, das auf der anderen Seite ist.
Oben ist unten.
Und unten ist oben.
Richtig.
Verkehrt.
Licht.
Schatten.
Es kam wirklich immer auf den Standpunkt an.
Zuversicht durchströmte Catalina wie ein Lied, das sie einmal am Morgen in den Straßen von La Marina gehört hatte. Entschlossen packte sie die breiter werdende Rankenwurzel und kletterte weiter hinauf. Und wenn sie oben ankäme, dann wäre sie . . .
Wo?
War dies hier der Eingang zur Schattenstadt?
Ein Flügelschlag streifte sie. Miércoles fauchte eine Warnung, während er sie umkreiste, wie es nur ein fliegender Kater tun kann.
Im gleichen Moment hörte sie es wieder, dieses gedehnte bösartige Zischen, und sie spürte die Eiseskälte in der fernen Tiefe.
Sie schnappte nach Luft. Der Harlekin! Dabei war sie überzeugt gewesen, ihn hinter sich gelassen zu haben.
Catalina bot all ihre Kräfte auf und zog sich an der Rankenwurzel nach oben. Schnell näherte sie sich dem Licht am Ende des Brunnens, der jetzt wieder der Einstieg zum Brunnen war.
Der Schatten des Kartenmachers, der in der Dunkelheit mit seiner Umgebung eins geworden war, gewann langsam an Kontur. Je näher sie dem Licht kamen, umso schärfer umrissen wurde er und umso ähnlicher sah er dem alten Mann, den Catalina so in ihr Herz geschlossen hatte.
Sorgenvoll blickte er hinter sich, nach unten.
Doch diesmal zwang Catalina sich, es ihm nicht gleichzutun.
Jordi hatte einmal davon gesprochen, wie schwer es war, sich von dem, was einen festhielt, zu lösen, wenn man erst zurückschaute. Wie sehr der Blick zurück auf dem Weg
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