Die Koenigin der Schattenstadt
entfuhr es Márquez, der so bleich geworden war, wie es ein Schatten nur sein kann. Schnellen Schrittes trat er auf das Mädchen zu und packte es an beiden Händen. Schattenaugen sahen Catalina an. »Ich werde ihn aufhalten. Aber du . . .« Er schluckte. »Du musst fort.« Er deutete die Straße hinab. »Du findest die Windmühle, unsere Windmühle, wenn du dieser Straße folgst. Weiche nicht vom Weg ab, das geht selten gut aus.« Er bedachte den Kater mit einem vielsagenden Blick. »Pass auf sie auf.«
Miércoles schnurrte etwas und legte den Kopf schief.
»Ich treffe euch bei der Windmühle.«
Das Kreischen drang erneut aus dem Brunnenschacht. Instinktiv legten sich die Rankenwurzeln wieder über den Chafariz. Die Dornen wurden nun größer und die Blüten schlossen sich. Der Drache fauchte.
Es würde nichts nützen.
»Das ist kein Harlekin«, murmelte Catalina und ihre Stimme bebte. »So haben sie sich nie angehört.«
Márquez schüttelte traurig den Kopf. »Es ist ein Flüsterer. In der Stadt aus Nacht und Nirgendwo sind die Harlekine anders.« Er berührte ihre Stirn mit seinem Schattenfinger, doch sie spürte es nicht. »Du musst mir versprechen, dass du nicht zurückschaust. Egal, was passiert.«
Catalina schüttelte den Kopf. Sie war gerade erst in der Schattenstadt angekommen. Aber jetzt schien ihr alles falsch zu sein. Vor den Harlekinen hatte Márquez sie retten wollen und jetzt, wo sie hier waren, sollte alles schlimmer sein als je zuvor?
»Lauf!« Márquez stieß sie von sich fort.
Sie blieb stehen.
»Du musst gehen!«
»Das haben wir doch schon einmal erlebt!« Ihre Stimme bebte. »In der Windmühle.«
»Du hättest mir dort nicht helfen können und du kannst mir auch jetzt nicht helfen. Aber ich kann dir helfen. Glaub mir.«
»Haben Sie nicht gesagt, dass Sie mich nicht vor den Flüsterern schützen können?«
Er wiegte den Kopf.
»Was wird mit Ihnen passieren?«
»Ich werde ihn aufhalten.«
»Wie?«
»Das lass meine Sorge sein.«
Sie ging auf ihn zu. Wie gerne hätte sie seine Schattenhand ergriffen. »Sie zittern.«
Er lächelte. »Schatten«, sagte Márquez leise, »können auch Angst haben. Hast du das nicht gewusst?«
Lähmend langsam schüttelte sie den Kopf.
»Falls ich es nicht in die Windmühle schaffe, musst du zu Firnis gehen.«
Miércoles zerrte an ihrem Hosenbein.
Hatte sie richtig gehört? »Firnis Cervantes? Der Bibliothekar?«
Er nickte nur. »Du musst los!«
Der Schrei des Flüsterers zerriss die Stille. Diesmal war er nah, ganz nah.
Etwas machte sich von unten an den Rankenwurzeln zu schaffen.
»Catalina!«
Sie erwachte aus ihrer Starre. Es durfte nicht sein, dass sich das, was in der Windmühle geschehen war, hier wiederholte. Arcadio Márquez war wie ein Vater zu ihr gewesen. Er war ihr Meister, er hatte ihr gezeigt, wie man mit Tusche und Stiften umgehen muss, um Karten zu zeichnen. Er hatte sich um sie gekümmert, als niemand sonst für sie da gewesen war. Sie konnte ihn nicht ein zweites Mal zurücklassen.
»Ich will das nicht«, krächzte Catalina und spürte, wie ihr Tränen über das schmutzige Gesicht rannen. Die alten Augen aus Schatten, in denen ihr Abbild schwamm, waren tief und ehrlich, wie sie es immer gewesen waren. So viele Momente lebten in nur diesem einen Augenblick.
Dann entstieg der Flüsterer dem Chafariz und die bittere Entscheidung, wie auch immer sie ausgesehen haben mochte, wurde Catalina aus der Hand genommen.
Auf und davon, hinaus und hindurch
Die Finsterfäden hingen wie hungrige Schlangen aus dem Wolkengebilde. Schon berührten sie die flachen Dächer und dschungelartigen Hängegärten. Die frisch geregneten Schattentropfen sammelten sich in seichten Pfützen, die ölig im schwachen Licht der Feuer glänzten.
Jordi Marí kniete mitten im Schmutz der Straße vor dem brennenden Haus. Hinter ihm verzehrten die wütenden Flammen das Gebäude, in dem Fado Mariza gelebt hatte, und er hatte nicht die geringste Ahnung, was aus Nuria Niebla geworden war. Jordi wusste nicht, wo Kamino Regalado war, ganz zu schweigen von den Sorgen, die er sich wegen Catalina machte.
Immerhin, er hatte es geschafft, dem brennenden Laden zu entkommen, doch der Anblick, der sich ihm in diesem Teil der Alfama darbot, hatte ihm schlagartig das bisschen an Kraft geraubt, das er noch besessen hatte.
Nie zuvor hatte er die Fäden der Meduza aus solcher Nähe erblickt. Etwas lebte in ihnen, etwas, das sich fortwährend bewegte. Es sah aus wie Farben, die
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