Die Koenigin der Schattenstadt
gekommen war.
Daran, was das bedeuten mochte.
Sanft schimmerte das Licht aus allertiefster Finsternis.
Die Stadt der Schatten.
»Es ist, als nehme man ein Blatt Papier in die Hand.« Márquez war dicht neben ihr. Seine Schattenstimme hatte sich zu einem Flüstern gesenkt. »Man betrachtet das Bild, das darauf gemalt wurde. Dreht man dieses Blatt Papier aber um, so sieht man das schattenhafte Abbild dessen, was auf der anderen Seite ist. Es schimmert durch, weil die Tinte von beiden Seiten aus zu erkennen ist. Die Tinte hinterlässt Formen auf beiden Seiten.«
Der Schatten des Kartenmachers glitt an der Brunnenmauer entlang. »Aber für jede der beiden Seiten«, erklärte er, »ist die andere Seite kaum mehr ein Abbild dessen, was sie selbst als die Wirklichkeit ansieht.«
Catalina blickte auf. »Es hängt also von der Sichtweise ab.«
»Alles, Catalina, hängt immer und überall nur von der Sichtweise ab.« Márquez schwebte ohne Probleme in die Dunkelheit hinein, und als er ganz und gar in sie eingetaucht und förmlich von ihr verschluckt worden war, da konnte Catalina nur noch seine Stimme und den leisen Atem hören, die beide wie ein Echo im Schacht widerhallten.
Catalina streckte ihre Hand aus und wiederholte im Stillen die Bitte an den Rosenefeu.
Wieder schoben sich die Äste und Wurzeln geräuschvoll zur Seite. Blätterwerk raschelte und eine große Rankenwurzel kroch in die Tiefe. Die Dornen, die aus ihr herauswuchsen, wurden kleiner und kleiner, als zöge die Pflanze sie absichtlich ein, damit sie dem Mädchen kein Leid zufügte. Die Blüten, die bisher noch geschlossen gewesen waren, öffneten sich und verströmten den einladenden Duft nach Rosen.
Catalina verstand.
»Ich danke dir, Rosenefeu«, flüsterte sie. Dann kletterte sie, sich an der langen Rankenwurzel festhaltend, über den Brunnenrand in die Dunkelheit hinein.
Im Abgrund
Die Finsternis legte sich um Catalina wie eine Decke. Vorsichtig tastete sie mit den Füßen nach dem glitschigen Mauerwerk, doch sie fand keinen Halt. Nur ihre eigenen Atemzüge hörte sie, keuchend, angstvoll. Ihre Fingerspitzen suchten nach kleinen Lücken im Mauerwerk.
Unter ihren Beinen, die haltlos in der Luft baumelten, konnte sie die Tiefe spüren. Sie fühlte sich nicht gut an, nur weit und leer, so tintenschwarz.
Sie verstärkte ihren Griff um die atmenden Rankenwurzeln und begann zu klettern, Griff für Griff, wie sie es früher gelernt hatte, als sie an den alten Flickenfetzenflügeln der Windmühle herumgeturnt war. Sie tastete sich durch die Finsternis und fühlte sich blind und hilflos. Kleine Tiere, die viele Beine hatten, wuselten ihr über die Hände und Arme, fielen manchmal von ihr ab und manchmal krochen sie ihr über den Nacken ins Haar.
Sie schloss die Augen, öffnete sie wieder. Die Dunkelheit war geblieben.
Vorsichtig kletterte sie weiter, wohl wissend, dass das hier etwas völlig anderes war als alles, was sie früher erlebt hatte, sogar auf ihrer Flucht mit Jordi.
Das hier war tief, so tief und bodenlos. Wenn sich kleine Steine aus der Wand lösten und nach unten fielen, dann hörte sie keinen Aufprall. Da war nur Stille, ein leichter Windzug.
Das schaffe ich nicht, schoss es ihr durch den Kopf. Diesmal nicht.
Aber es gab nur diesen einen Weg.
Abwärts würde es gehen, weiter und weiter. Und sie wusste nicht einmal, ob sie damit nur den Brunnen meinte.
Catalina spürte, wie ihre Arme unter ihrem Gewicht anfingen zu zittern. Die Finger, die sich um die hölzernen Ranken klammerten, verkrampften sich, das raue Holz riss ihre Haut an den Innenflächen der Hände auf. Ihre Nackenmuskeln fühlten sich an, als würde jemand mit einer Klinge hineinstechen.
Sie keuchte.
Doch gerade als sie das Gefühl hatte, dass sie sich keine Sekunde länger halten konnte, spürte sie plötzlich unter ihrem linken Fuß eine Ranke, die sich zu einem dicken, atmenden Strang verdickte und ihr Halt gab. Wie eine Strickleiter formte der Rosenefeu Stufe für Stufe. Der Duft der Pflanze stieg auf und gab ihr Mut.
Sie hörte ein Rauschen, irgendwo von weiter oben, und einen Moment später war Miércoles neben ihr. Und während sie sich mit neuer Zuversicht an den Abstieg machte, flog er mühelos neben ihr her.
Es dauerte nicht lange und sie war ganz in den tiefen Brunnen abgetaucht. Wieder und wieder lauschte sie in die Dunkelheit hinein. Und die Dunkelheit, so kam es ihr vor, lauschte zurück. Müsste dort unten nicht Wasser sprudeln? Es war nichts zu
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