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Die Koenigin der Schattenstadt

Die Koenigin der Schattenstadt

Titel: Die Koenigin der Schattenstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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bestand aus Schatten. Er würde ihm weiterhelfen können.
    Der Lichterjunge sprang auf und pustete in eines der Sprachrohre, die hier wie in jedem Raum des Falken aus den Wänden ragten.
    Karim Kopernikus war unten bei Santiago Cortez und reparierte die Navigationsgeräte. Kurz darauf erschien er in der Messe. »Du hast nach mir gerufen?«
    »Ich habe eine Frage«, sagte Jordi. Dann stellte er sie. Und Kopernikus wurde so bleich wie die Scheibe des Mondes.

Erinnerungen, finster und fern
    »Was geschieht, wenn einen die Schatten kriegen?«
    Karim Kopernikus stand ohne Regung da, mitten in der Messe, und sah aus, als habe er etwas verloren. Die Kleidung, Hose, Hemd und Mantel, die er seit Barcelona trug, war zerschlissen und grau. Er selbst wirkte müde, die schwarzen Haare waren zu wilden Büscheln gestutzt und das hagere Gesicht unrasiert. Er schien lange Zeit darüber nachzudenken, was er mit Jordis Frage anfangen sollte. Schließlich antwortete er, scheinbar jedes Wort einzeln und sorgsam abwägend: »Von dir bleibt nur dein Schatten.«
    »Aber was geschieht mit den Menschen?« Jordi hatte mit eigenen Augen gesehen, wie die Harlekine die anderen Menschen zu Schatten gemacht hatten. Sie flossen durch die Augenschlitze ihrer weißen Masken mit dem schwarz-roten, breiten Grinsen und benetzten die Gesichter ihrer Opfer, krochen ihnen in die Augen und nisteten sich dort ein.
    Kopernikus musterte Jordi, neugierig und wachsam. »Warum willst du all das wissen? Die Schatten sind fort. Wir haben Lisboa und Katalonien hinter uns gelassen.«
    »Nur für den Augenblick«, sagte Kamino. »Wir wissen nicht, was sie noch alles im Schilde führen.«
    Kopernikus ließ sich nicht beirren. »Warum, Jordi?«
    »Was geschieht mit den Menschen, wenn sie von den Schatten befallen werden?«, wiederholte der Junge seine Frage. »Bitte, ich muss es wissen. Es ist wegen Catalina.«
    Kopernikus nickte, als verstehe er. »Die Schatten, die zu den Menschen gehören, verlassen sie. Das ist alles.« Er schaute von einem der Anwesenden zum anderen. »Ist das bisher etwa noch niemandem aufgefallen? Wenn die Harlekine ihr Opfer infiziert haben, dann trennt sich der Schatten.« Er hielt kurz inne. »Oh ja, es kann natürlich sein, dass die Harlekine zuerst Besitz von dem Schatten des Menschen ergreifen, aber wenn sie in dessen Körper gelangt sind, dann brauchen sie den alten Schatten nicht mehr. Er wird, könnte man sagen, vom Körper abgeschnitten und sickert in den Boden.«
    Jordi fragte sich, warum ihm das nie zuvor aufgefallen war. So viele Menschen hatte er vor den Schatten fliehen sehen. Die Fäden der Meduza waren unbarmherzige Jäger. Doch in dem Tumult der Angriffe hatte Jordi nie zuvor auf die eigentlichen Schatten der Menschen geachtet. Immerzu hatte er sich auf die Augen der Menschen konzentriert. Darauf, wie sie langsam mit dichter Nacht vollliefen.
    »Was passiert mit diesen Schatten?«
    »Sie gehen fort.«
    »Wohin?«
    »In die Schattenstadt.« Kopernikus senkte seinen Blick. »Die Schatten finden dort Zuflucht.«
    »Was ist das – eine Schattenstadt?«, fragte Kamino verdutzt.
    Kopernikus seufzte. »In den wehmütigen Gesängen von Lisboa kommt sie manchmal vor, in den alten Schriften und den Märchen. Kaum jemand glaubt wirklich an ihre Existenz, aber es gibt sie, die Stadt der Schatten, so viel ist sicher. Es ist ein seltsamer Ort, der schon seit vielen hundert Jahren über die Erde wandelt.«
    Jordi nickte langsam. All seine unruhigen Gedanken, die ihm seit der Begegnung mit El Cuento im Kopf herumspukten, fügten sich mit einem Mal zu etwas zusammen, das Sinn machte. »Wenn ich recht habe, dann ist Catalina in den Händen der Schatten«, sagte er langsam. »Und wenn das tatsächlich passiert sein sollte, dann könnte sie . . . dann müsste sie doch in dieser Stadt sein, oder?« Er holte tief Luft. »Ich muss zu ihr.«
    Kopernikus zischte durch die Zähne. »Das ist keine gute Idee.«
    »Warum?«
    Kopernikus funkelte ihn an. »Ganz einfach: Wer einmal dort ist, kehrt nicht wieder zurück.«
    »Aber Ihr habt doch auch die Schatten in Euch getragen. Und sie haben Euch wieder verlassen.« Jordi war dabei gewesen.
    »Das«, murmelte Kopernikus, »war etwas ganz anderes.« Er hielt inne, überlegte kurz seine Wortwahl. »Die Schatten haben mich nicht verlassen, weil ich es so wollte«, sagte er. »Nein, bestimmt nicht, weil ich es so wollte.« Er hielt seine Hand in die Höhe. Uralt sah sie mit einem Mal aus. Voller Falten. Die

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