Die Koenigin der Schattenstadt
hinab. »Catalina befindet sich noch immer in Lisboa, stimmt’s?«
Nichts.
»Als du sie verlassen hast, da ist sie dort gewesen.«
Ein Wehen.
»Aber jetzt ist sie woanders?« Nein, nein, ganz falsche Frage. »Glaubst du, dass sie es geschafft hat, von dort zu entkommen?«
Nichts.
Kein Lüftchen, nicht das geringste.
Etwas raschelte hinter ihm. »Was, in aller Welt, tust du da?«
Jordi drehte sich schnell um.
Kamino Regalado stand in der Tür, die zur Reling hinausführte, und starrte ihn neugierig an. Die Narbe, die sich ihr über die linke Gesichtshälfte zog, vom Haaransatz bis zum Mundwinkel, leuchtete in der Sonne. Die lila Haare waren zu zwei Zöpfen geflochten und über dem Kopf mit einem Stöckchen zusammengebunden. Das grüne Hemd und die rote Hose waren voller Schmutz.
»Ich rede mit dem Wind«, sagte Jordi.
Der Wind wehte Kamino ins Gesicht und zupfte an dem Stöckchen, das ihre Haare zusammenhielt.
Verwirrt schaute sie sich um. »Welcher Wind?«
»Du verstehst das nicht«, sagte Jordi schnell.
»Nein.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Das tue ich nicht.«
»Er heißt El Cuento. Ich kenne ihn nicht besonders gut, aber er ist bei mir, seitdem ich Barcelona verlassen habe.«
Sie musterte den Jungen skeptisch. »Sonst geht’s dir gut?«
»Komm schon! Ihr redet mit den Seufzerstürmen!«
»Na ja, reden kann man das nicht nennen.«
»Was auch immer.«
El Cuento wehte Kamino erneut mitten in das gebräunte Gesicht, als wolle er sie von seiner Gegenwart überzeugen.
»Seit wann redest du denn schon mit dem Wind?«, fragte Kamino.
»Eigentlich verstehe ich ihn gar nicht«, sagte Jordi und zog ein Gesicht. »Es ist kompliziert.«
»Tja, so hört es sich auch an.« Sie trat an die Reling, beugte sich hinüber und begutachtete die Schläuche. »Abgesehen von diesem Windgequatsche leistest du wirklich gute Arbeit«, stellte sie fest. »Du wirst noch ein waschechter Windwanderer.« Sie zwinkerte ihm zu.
»Vielleicht sollte ich an Bord bleiben«, scherzte er.
Sie sah ihn nur an, etwas zu lange. »Ja«, sagte sie dann, »vielleicht solltest du das.«
Jordi wusste, dass Kamino ihr Herz an den Kapitän verloren hatte, aber er wusste auch, dass Santiago Cortez keine Ahnung von den Gefühlen hatte, die das Bootsmannsmädchen für ihn hegte. Kamino hatte ihm ihr Geheimnis in Lisboa anvertraut, auf den flüsternden Märkten. Sie hatte ihn geküsst, wie eine gute Freundin es tut, und ausgerechnet in diesem Moment war Catalina aufgetaucht und alles war ins Rollen gekommen.
»Catalina kann mit dem Wind sprechen«, erklärte er ihr. »Sie weiß alles, was passiert ist. Er hat ihr erzählt, dass ich mein Gedächtnis verloren habe. Dass ich sie nur deswegen nicht erkannt habe.« Er spürte selbst, wie er strahlte. Er fühlte sich glücklich und ganz leicht.
»Du liebst sie.«
Er nickte nur.
Sie berührte die Narbe in ihrem Gesicht.
Jordi wusste, woran sie dachte.
»Du solltest es Cortez sagen.«
Sie schüttelte den Kopf, doch noch ehe sie etwas erwidern konnte, hörten sie ein Krächzen und ein Spucken aus einem der Sprachrohre an der Längsseite des Gangs.
»Die Zigeunerhexe ist erwacht«, krächzte es aus dem Sprachrohr. Es war Kopernikus. »Wollt ihr nach unten kommen und mit ihr reden?«
Jordi war augenblicklich auf den Beinen. Endlich! Insgeheim hatte er sich schon Sorgen gemacht, dass die Zigeunerhexe nie mehr aufwachen würde.
Eilig folgte er Kamino zwei Decks tiefer in die Messe, einen großen Raum mit einem breiten Fenster. Ein runder Tisch war in der Mitte an den Boden geschraubt und die Wände zierten Regale, die gefüllt waren mit hölzernen Tellern und Krügen, allesamt mit Bändern und Schnüren befestigt, sodass sie bei wilden Flugmanövern nicht zu Boden fielen.
An einer Längsseite stand die Liege, auf der Makris festgebunden gewesen war, doch das Bett war leer. Die Decke, die Kamino über sie gebreitet hatte, lag auf dem Boden, der Wasserkrug neben der Liege war umgeworfen.
Die Zigeunerhexe saß auf einem Stuhl gleich neben dem Fenster und sah hinaus.
Das pechschwarze Haar, das ihr weit über die Schultern fiel, war von dünnen bunten Bändern durchzogen, und der lange Rock, der wie ein feines Muster aus gesungenen Liedern, geheimnisvollen Geschichten und geflüsterten Zaubertricks aussah, reichte ihr bis fast zu den nackten Füßen.
»Makris«, sagte Kamino unsicher. »Du hast lange geschlafen.« Sie zögerte. »Hast du es schon gehört? Wir haben Jordi
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