Die Koenigin der Schattenstadt
nach Büchern«, sagte er.
Sie nickte ihm zu. »Und nach Buchstaben.« Sie erinnerte sich an das Gefühl, als sie das erste Mal ins Haus der Nadeln gekommen war. »Aber es riecht irgendwie merkwürdig«, murmelte sie. »Nicht mehr so gut.« Sie wusste nicht, wie sie es hätte anders beschreiben sollen. Dies war nicht der staubige Geruch nach Büchern, der sie an die Karten und Pergamente erinnert hatte. »Wir sollten vorsichtig sein«, riet sie dem Sphinx.
Miércoles schlich wachsam neben ihr her.
Das runde Balkonfenster, durch das sie das Haus der Nadeln betreten hatten, führte nicht in einen Raum hinein, sondern brachte sie auf eine Empore, die von einem schmiedeeisernen Geländer gesäumt wurde. Catalina schaute sich um.
Hoch oben in der Bibliothek befanden sie sich, dicht unter dem Dach. Glaskeramiksteinchen verzierten die kunstvollen Spitzbögen, und die Decke, die von gedrehten Säulen gehalten wurde, wölbte sich direkt über ihnen. Weit, weit unten erstreckte sich ein Ziegelsteinboden, der übersät war mit verfaulten Blättern, feuchtem Papier und zerbrochenen, wispernden Buchstaben. An den Regalreihen voller alter Bücher hingen sandfarbene Kokons in allen Größen. Catalina wusste um die Bücherwürmer, die sich verpuppten und zu neuen Büchern wurden, wenn die Zeit gekommen war. Doch das, was sie jetzt sah, waren keine gesunden Bücherwürmer.
An den Seiten des riesigen, hohen Raumes wuchsen Palmen bis unter das Dach hinauf und auf ihren braunen Blättern hatten sich kleine und große Buchstaben niedergelassen. Raupenartige Wesen mit schwarzen Augen und bunten Härchen hockten nur noch vereinzelt in den Palmen und gebeugten Kakteen. Die Luft war erfüllt von wild gewordenen Buchstaben, die in Schwärmen umherzogen und Manöver flogen, die kein Ziel und erst recht keine Absicht erkennen ließen.
»Es fällt mir immer schwerer, sie einzufangen«, hörten sie eine Stimme sagen, die wie raschelndes Papier klang. »Seitdem Pérez und Reverte fort sind, tun sie alle, was sie wollen. Es geht ihnen nicht gut. Sie sind krank.«
Erst jetzt fiel Catalina auf, dass auch einige verhungerte Bücherwürmer auf den Blättern lagen. Sie sahen aus wie getrocknete Früchte, schwarz und geschrumpft.
»Es sind so zarte Geschöpfe, die der Fürsorge bedürfen«, sagte der Schatten in dem hellen Anzug aus Leinen. »Ja, das sind sie. Wenn man sie nicht füttert, dann gehen sie schnell ein. Sie sind ein Leben in freier Wildbahn nicht gewohnt.«
Catalina sah sich um und lief auf die Wendeltreppe zu, die nach unten führte.
»Willkommen«, raunte der Mann, der am Fuß der gusseisernen Treppe stand und so staubig wirkte wie manche der Regale. »Willkommen in der Wildnis der verlorenen und wiedergefundenen Geschichten.« Er winkte die beiden zu sich heran, blinzelte und sagte dann, als er sie erkannte, voller Freude: »Catalina Soleado, in der Tat, du bist es wirklich, Mädchen.«
Catalina war froh, ihn zu sehen.
Und Firnis Cervantes ging es, das war ihm anzumerken, offenbar ganz genauso.
Er hat sich verändert, stellte Catalina erschrocken fest.
Der Schatten des alten Satzsetzers, Wortdeuters und Buchstabenfängers sah noch so aus, wie sie Firnis kennengelernt hatte, aber etwas war anders. Es war die Art, wie er sich bewegte, und die Weise, wie er redete. Er wirkte so erschöpft und krank wie alles in diesem Haus.
»Márquez hat dich bereits angekündigt«, sagte er mit einer Stimme, die an brennende Bücher und Folianten erinnerte. »Er hat mich vor zwei Tagen aufgesucht.« Er lächelte versonnen, doch irgendwie so kraftlos, dass es Catalina traurig stimmte. Wie früher fielen ihm winzige Buchstaben und feine Satzzeichen aus dem Mund, wenn er redete. Sie rieselten zu Boden, aber nur wenige von ihnen erhoben sich in die Lüfte und führten dann gemeinsam mit den anderen einen wilden Tanz auf.
»Diese Bibliothek«, knurrte er, »hat sich verändert. Es ist jetzt alles anders. Ich bin auch anders.«
Catalina blickte sich im Raum um und bemerkte erschrocken, dass die kleinen Kokons an vielen Stellen aufgeplatzt waren und Tinte absonderten. Ein übel riechender Odem ging von ihnen aus.
»Sie sterben«, sagte Firnis. »Und auch die Bücher scheinen sich hier nicht wohlzufühlen.« Er schnaufte rasselnd. »Dafür gibt es andere Bücher, die schon lange in dieser Welt gelebt haben. Sie fressen die Buchstaben, die ich mitgebracht habe, langsam auf.« Dunkle Lettern schwammen ihm in den alten Augen. »Sie sind kalt, diese
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