Die Koenigin der Schattenstadt
einen der ausgetrockneten Bücherwürmer. »Sie wissen keine Antwort. Aber die Schatten haben ihre eigenen Chroniken verfasst, oh ja, das haben sie.«
Er blätterte in dem großen Buch. Die Seiten machten leise Geräusche, die wie ein kühler Abendhauch waren.
Catalina blieb neben dem Tisch stehen, Miércoles sprang behände auf die Tischplatte.
»Ich habe so viel gelesen, seitdem ich hier bin, und ich habe unzählige Buchstaben gekostet. Sie schmecken kaum anders als in Barcelona. Sie sind nur ein wenig kälter. Und sie erzählen andere Geschichten. Voller Geheimnisse sind sie. Sie atmen.« Er schloss einen Moment die Augen. »Und ich glaube, dass man krank von ihnen werden kann.« Er hob mahnend die Hand. »Also kostet nichts von dem, was ihr hier findet. Lasst meine Augen für euch lesen.«
»Was passiert mit Ihnen?«
Er zuckte die Achseln und versuchte vor ihr zu verstecken, dass seine Hände zitterten. »Ich weiß es nicht, Mädchen. Ich bin alt. Dies ist nicht meine Welt.« Er schlug mit der Hand auf das Buch und schimpfte: »Muss es denn für alles einen Grund geben, hm?«
Catalina erwiderte nichts.
»Was haben Sie herausgefunden?«, fragte Miércoles. Er hatte sich neben das Buch gesetzt und seine Augen funkelten neugierig.
Firnis ließ seine Hand über die verschnörkelten Buchstaben gleiten, die sich wie wilde Tiere in Rudeln bewegten, wenn er sie berührte. »Die Schattenstadt, müsst ihr wissen, ist einst kaum mehr gewesen als ein Dorf.« Er hustete erneut und spuckte einige Sätze aus, die keinen Sinn ergaben. Dann fuhr er fort: »Ein Mädchen lebte in diesem Dorf, ganz allein. Die Schwester des Mädchens, die, so sagte man, anderswo lebte, kam von Zeit zu Zeit zu Besuch und gemeinsam gingen sie dann auf Reisen. Sie brachten Tiere mit von diesen Reisen und manchmal richtige Menschen.« Firnis seufzte und rieb sich die Augen. »Und so füllte sich das Dorf mit Leben und das Mädchen war glücklich. Viele fanden ihren Weg hierher und eines Tages mussten die beiden Schwestern überlegen, was sie tun sollten.«
»Es gab zu wenig Platz«, stellte Miércoles fest.
»Der Sphinx hat es erfasst«, sagte Firnis.
»Wohin sind sie denn gereist?«
»Langsam, langsam, junge Dame«, forderte Firnis sie zur Ruhe auf. »Es ist so einfach nicht.« Er stützte sich auf die Lehne des Stuhls und atmete schwer. »Die beiden Mädchen«, fuhr er fort, als er wieder bei Atem war, »reisten in eine ferne Stadt, die, so steht es geschrieben, in einem grünen Land lag. Madrid ist ihr Name gewesen.« Er beugte sich über den Tisch und Catalina konnte seinen trockenen Atem riechen. »Sie verwandelten die gesamte Stadt, erst langsam nur, dann schneller. Sie machten aus Madrid eine neue Stadt, in der die Schatten leben konnten.«
Catalina nickte. Jordi hatte die Legende von der toten Stadt aufgestöbert, hier in der Bibliothek. Es war das erste Mal gewesen, dass Catalina von Madrid gehört hatte.
»Das Dorf wuchs zu einer mächtigen Stadt heran. Es gab riesige Häuser und prächtige Paläste und Straßen, die weiter führten als bisher, und Plätze, auf denen man sich versammeln konnte. Das, was in Madrid zu Schatten wurde, erschien hier in der Stadt aus Nacht und Nirgendwo. Dann kamen die Schatten der Menschen, in Scharen und Scharen. Und das Mädchen war nicht länger allein.«
»Aber was geschah in Madrid?«
»Das«, sagte Firnis und blätterte die dicken Seiten in dem Buch vor sich um, »können wir nur vermuten.« Er suchte nach den langen Sätzen. »Madrid und die Stadt der Schatten gehörten von nun an untrennbar zusammen, wie der Schatten immer zu einem Körper gehört und der Körper immer zu einem Schatten. Das, was das Mädchen mit den Tieren und Menschen angestellt hatte, geschah jetzt mit einer ganzen Stadt. Die Schatten waren lebendig, genauso wie die Körper, die ihnen einst Befehle erteilt hatten. Und sie waren dem Mädchen von nun an untertan.«
Catalina, die Teile dieser Geschichte schon vorher gehört hatte, gab zu bedenken: »Aber Malfuria hat Madrid doch zerstört.«
Firnis lehnte sich zurück und schnaufte laut. »Die Kartenmacherinnen versammelten sich in Malfuria und gemeinsam zeichneten sie die alte Welt in neuen Farben. Aber sie zerstörten, statt zu heilen. Es gab kein Madrid mehr in dieser neuen Welt. Nur Meer, eine neue Küstenlinie. Dort, wo einst die große Stadt gewesen war, machten sich die Fluten breit. Alles veränderte sich.« Er sah das Mädchen an. »Und hier veränderte es sich
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