Die Koenigin der Schattenstadt
den kleinen Steinchen und den Holzsplittern, den Planken und Pflanzenstielen, die gemeinsam mit den pechschwarzen Rabenfedern die Wände formten.
Sarita war niemals zuvor in Malfuria gewesen. Ihr ganzes Leben hatte sie nur davon geträumt und jetzt, da sie durch das endlose, sich andauernd verändernde Labyrinth aus Räumen, Sälen und Kammern, Treppenhäusern und Hallen schreiten durfte, da wollte sie nur noch von hier fliehen.
Sie fühlte sich nicht wohl in diesem Sturm. Es war nicht so, wie sie es sich erhofft hatte. Kassandra Karfax hatte ihr gesagt, dass Malfuria ihr allein gehören würde. Sie würde das Herz der Hexenheit sein, das hatte sie geglaubt.
Doch nun . . .
Sarita stand abseits, wo sich Bücher aus den Wänden wölbten, und sie beobachtete, wie Kassandra ihre einstige Lehrerin, die in einem großen Sessel saß, ganz langsam umkreiste, als sei sie ein Raubtier.
»Euer Herz schlägt also wieder«, sagte Kassandra Karfax und ihr Mund verzog sich zu einem knisternden Lächeln. La Sombría, die Kassandras Ebenbild war, stand hinter Agata. Eine Hand mit Fingern aus Finsternis ruhte auf der Schulter der alten Frau.
»Ich habe niemanden darum gebeten«, fauchte die Hexe.
Kassandra Karfax beachtete sie nicht. »Ihr wärt gestorben, hätte meine Schwester Euch nicht geholfen.«
Agata la Gataza schaute auf. »Deine Schwester, pah!«
Kassandra Karfax fuhr die Hexe wütend an: »Es war Eure Magie, alte Frau, die es getan hat. Vergesst das nicht! Es waren Eure Schriften, die mich damals dazu gebracht haben, zu tun, was alles veränderte.«
Die Herrin von Malfuria schnaubte: »Du hast sie gestohlen. Ich hatte es dir strengstens verboten. Du wusstest es.«
»Die Magie gehört demjenigen, der sie zu nutzen weiß. Das sind Eure Worte gewesen.«
»Du hast wirklich gar nichts verstanden.«
Sarita begann sich zu fragen, wie dieses Spiel, dessen Teil sie nun war, wohl enden würde.
Kassandra Karfax blieb abrupt stehen. »Sagt mir, alte Lehrerin, könnt Ihr selbst jetzt noch nicht verstehen, was mich all die Jahre verzaubert hat?« Ihr zorniges Gesicht aus Papierfetzen und faltiger Haut war dem der Katzenhexe jetzt ganz nah.
Die Herrin von Malfuria seufzte. Dann sagte sie: »Ja, jetzt sehe ich es.«
Sie blickte sich nach La Sombría um, die grazil durch den Raum schwebte und die Wand neben dem hölzernen Globus berührte. Ein Fenster öffnete sich. Eine wilde Wüste aus Sand und Sonne erstreckte sich tief unter ihnen, bis hin zum flimmernden Horizont.
Schatten huschten durch den Raum, Sarita sah ihre lebendigen Farben. Sie wusste genau, wie umwerfend dieser fremde Anblick sein konnte. Wie frei er machen konnte.
Die Katzenhexe sah dies alles auch. Man konnte es in ihren schwarzen Augen lesen.
Kassandras Stimme wurde mit einem Mal sanfter, raschelte so verführerisch, wie Sarita sie kennengelernt hatte. »Ihr seht die unermesslich reichen Wunder der Schattenwelt, alte Frau, nicht wahr? Und Ihr wisst jetzt, dass Ihr nicht mehr ohne sie leben könnt.« Sie beugte sich vor. »Aber Ihr wollt doch leben, Agata! Das wolltet Ihr schon immer. Sonst hättet Ihr damals La Sombría getötet.« Sie blickte mitten in die pechschwarzen Augen hinein und noch weit darüber hinaus. »Aber«, lachte sie raschelnd, »Ihr habt es nicht über Euch gebracht. Denn dazu hättet Ihr auch Euer eigenes Leben einbüßen müssen. Und zu dem Opfer seid Ihr nicht bereit gewesen.«
»Die Magie«, sagte die Katzenhexe, »hat uns beide betrogen.«
»Mich«, sagte Kassandra triumphierend, »hat die Magie nicht betrogen. Denn ich werde Catalina Soleado finden.« Sie warf Sarita einen fordernden Blick zu. »Die Mutter und die Tochter werden uns eine neue Welt zeichnen.«
Die Herrin von Malfuria, die Sarita überhaupt nicht beachtete, schüttelte müde den Kopf. »Sie wird es nicht tun«, sagte sie. »Catalina ist ein störrisches Ding. Bockig wie ein Maulesel. Keinen Finger wird sie rühren.«
Kassandra Karfax rieb sich die Hände und trat neben La Sombría. Die beiden sahen wirklich wie Schwestern aus. »Sie wird dem Köder gar nicht erst widerstehen können«, sagte sie.
Agata la Gataza nickte, plötzlich einsichtig. »Jordi Marí«, flüsterte sie und es klang, als wehe ein kalter Hauch durch die Abendluft.
»Sie wird zu uns kommen, um den Jungen zu retten«, zischte La Sombría.
Kassandra wirkte durch und durch zufrieden. »Und wenn sie das tut, wird sie uns zu Diensten sein.«
Ein Finsterfalter flatterte durch das offene Fenster
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