Die Königin der Weißen Rose
Du hast keine übersinnlichen Kräfte. Es gibt nur das, was wir Sünder nach dem Willen Gottes tun. Und Thomas Burdett hat keine Macht. Er wünscht uns einfach nur Schlechtes an den Hals, das ist nicht mehr wert als die Versprechungen eines Hausierers.»
Ich lächle ihn an und widerspreche ihm nicht. Aber ich weiß genau, dass es mehr gibt als das.
«Wie ist die Geschichte von Melusine ausgegangen?», fragt mich mein kleiner Edward an diesem Abend nach dem Gebet. Er teilt sich ein Zimmer mit seinem dreijährigen Bruder Richard, und die beiden sehen mich erwartungsvoll an. Sie wollen vor dem Schlafengehen noch eine Geschichte hören.
«Warum fragst du mich danach?» Ich setze mich auf einen Stuhl am Kamin und ziehe einen Fußschemel heran, um die Füße hochzulegen. Ich spüre, wie sich das Kind in meinem Bauch bewegt. Ich bin im sechsten Monat, und es fühlt sich an, als hätte ich noch eine Ewigkeit vor mir.
«Ich habe gehört, wie Lord Onkel Anthony heute mit dir über sie gesprochen hat», sagt Edward. «Was ist passiert, nachdem sie aus dem Wasser gekommen ist und den Ritter geheiratet hat?»
«Es endet traurig», sage ich und bedeute ihnen, sich ins Bett zu legen. Sie gehorchen, aber ihre hellen Augen blicken mich über den Bettdecken erwartungsvoll an. «Es gibt unterschiedliche Geschichten. Manche sagen, ein neugieriger Wanderer kam zu ihnen und spionierte ihrnach und sah mit an, wie sie beim Baden zum Fisch wurde. Manche sagen, ihr Ehemann habe sein Wort gebrochen, sie dürfe allein schwimmen. Er spionierte ihr nach und sah, wie sie wieder zum Fisch wurde.»
«Aber warum sollte ihm das etwas ausmachen?», wendet Edward ganz vernünftig ein. «Sie war doch auch ein halber Fisch, als er sie kennengelernt hat.»
«Ach, er dachte, er könnte sie ändern, damit sie die Frau würde, die er sich wünschte», sage ich. «Manchmal mag ein Mann eine Frau, aber er hofft trotzdem, er könnte sie ändern. Vielleicht war es so.»
«Kommt in der Geschichte ein Kampf vor?», fragt Richard schläfrig. Die Augen fallen ihm schon fast zu.
«Nein», sage ich. Ich küsse Edward auf die Stirn, dann gehe ich zum anderen Bett und küsse Richard. Sie riechen beide noch immer wie Säuglinge, nach Seife und warmer Haut. Ihr Haar ist weich und duftet frisch.
«Und was passiert, als er erfährt, dass sie immer noch halb Fisch ist?», flüstert Edward, als ich zur Tür gehe.
«Sie nimmt die Kinder und verlässt ihn», erzähle ich. «Und sie sehen sich nie wieder.»
Ich puste ein paar Kerzen aus, aber einige lasse ich brennen. Im Licht des Feuers hinter dem kleinen Gitter ist das Zimmer warm und gemütlich.
«Das ist wirklich traurig», sagt Edward bekümmert. «Der arme Mann hat seine Frau und seine Kinder nie mehr wiedergesehen.»
«Ja, das ist traurig», stimme ich ihm zu. «Aber es ist nur eine Geschichte. Vielleicht gibt es noch ein anderes Ende, das die Menschen vergessen haben. Vielleicht hat sie ihm vergeben und ist zu ihm zurückgekehrt. Vielleicht ist er aus lauter Liebe zum Fisch geworden und hinter ihr hergeschwommen.»
«Ja.» Ein glücklicher Junge wie er lässt sich leicht trösten. «Gute Nacht, Mama.»
«Gute Nacht. Gott segne euch.»
Als er sah, wie das Wasser über ihre Schuppen floss, während sie kopfüber in dem Bad schwamm, das er eigens für sie gebaut hatte, weil er dachte, sie wollte sich waschen – aber doch nicht in einen Fisch zurückverwandeln! –, stellte sich augenblicklich ein Gefühl des Ekels ein, das manche Männer überkommt, wenn sie zum ersten Mal begreifen, dass eine Frau das wahrhaft «Andere» ist. Sie ist kein Junge, obwohl sie genauso schwach ist. Sie ist keine Närrin, obwohl er gesehen hat, wie sie vor närrischer Rührung gezittert hat. Sie ist kein Schuft, obwohl sie nachtragend ist, und in ihren Anwandlungen von Großzügigkeit ist sie keine Heilige. Sie besitzt keine dieser männlichen Eigenschaften. Sie ist eine Frau. Etwas ganz anderes als ein Mann. Was er gesehen hat, war zur Hälfte Fisch, aber was ihn bis in die Seele ängstigte, war die andere Hälfte, das Wesen, das eine Frau war.
Georges Niedertracht seinem Bruder gegenüber wird bei dem Prozess gegen Burdett und seine Mitverschwörer augenscheinlich. Auf der Suche nach Beweisen werden Anschlagspläne enthüllt, ein krudes Gewirr dunkler Versprechen und Drohungen, Rezepte für vergiftete Kuchen, ein Tütchen gemahlenen Glases und offene Verwünschungen. Unter Burdetts Papieren findet sich nicht nur eine
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