Die Königin der Weißen Rose
diesem Morgen nicht und stürmen auch nicht seine Festung. Ich allein habe in der vergangenen Nacht wach gelegen, ich allein habe mich die langen Stunden um den kleinen König gesorgt.
Die Stadt wartet, was der Lord Protector zu tun gedenkt. Davon hängt alles ab. Wird Richard of Gloucester, der geliebte, treue Bruder des verstorbenen Königs, dessen letzten Befehl ausführen und dessen Sohn auf den Thron setzen? Ist er treu wie eh und je, wird er seine Rolle als Lord Protector spielen und über seinen Neffen wachen bis zum Tag der Krönung? Oder ist Richard of Gloucester falsch wie alle Yorks? Missbraucht er die Macht, die sein Bruder ihm verliehen hat, enterbt seinen Neffen, setzt sich die Krone auf den eigenen Kopf und ernennt seinen Sohnzum Prince of Wales? Niemand weiß, was Richard tun wird, und wie immer wollen viele auf der Seite des Gewinners stehen. Alle müssen abwarten. Ich bin die Einzige, die ihn jetzt niederstrecken würde, wenn ich könnte. Nur um auf der sicheren Seite zu sein.
Ich schließe die Türklappe wieder und trete an die Fenster, um auf den Fluss zu starren, der so nah vorbeifließt, dass ich fast die Hand hineinhalten könnte, wenn ich mich hinauslehnte. Vor der Themsepforte zur Abtei liegt ein Boot mit Bewaffneten. Sie wachen über mich und halten meine Verbündeten von mir fern. Freunde, die zu mir wollen, werden abgewiesen.
«Er wird sich für die Krone entscheiden», sage ich leise zum Fluss, zu Melusine, zu meiner Mutter. Sie hören mich im vorbeifließenden Wasser. «Wenn ich mein Vermögen darauf setzen müsste, würde ich es tun. Er wird die Krone nehmen. Alle Männer Yorks sind krank vor Ehrgeiz, und Richard of Gloucester ist nicht anders. Edward hat Jahr für Jahr sein Leben aufs Spiel gesetzt, um für den Thron zu kämpfen. George hat sich lieber mit dem Kopf in ein Weinfass tunken lassen, als den Thronanspruch aufzugeben. Jetzt reitet Richard in London ein und führt Tausende Bewaffneter mit sich. Das tut er nicht zum Wohle seines Neffen. Er will die Krone für sich. Er ist ein Prinz von York, er kann einfach nicht anders. Er wird hundert Gründe dafür vorbringen, und noch in vielen Jahren werden die Leute über das streiten, was er heute tut. Aber ich wette, dass er die Krone nimmt, weil er nicht anders kann, genauso wenig wie George nur ein Narr und Edward nur ein Held sein konnte. Richard wird die Krone nehmen und mich und die Meinen verdrängen.
Ich halte für einen Augenblick der Ehrlichkeit inne. «Und in meinem Charakter liegt es, für die Meinen zukämpfen», sage ich laut. «Ich bin bereit. Ich rechne mit dem Schlimmsten. Ich stelle mich darauf ein, meinen Sohn Richard Grey und meinen liebsten Bruder Anthony zu verlieren wie meinen Vater und meinen Bruder John. Es sind schwere Zeiten, manchmal zu schwer für mich. Aber heute Morgen bin ich bereit, für meinen Sohn und sein Erbe zu kämpfen.»
Gerade als ich zu allem entschlossen bin, klopft ein Besucher an die Tür unserer Freistatt, ein banges Klopfklopfklopf, dann noch eines. Langsam gehe ich zu der schweren, verriegelten Tür, stampfe bei jedem Schritt meine Befürchtungen in den Boden. Ich öffne die Klappe vor dem Türgitter, und dort steht die Hure Elizabeth Shore, mit einer Kapuze über dem goldglänzenden Haar und vom Weinen geröteten Augen. Durch das Gitter kann sie in mein blasses Gesicht sehen, wie das einer Gefangenen, die sie von drinnen zornig anstarrt. «Was willst du?», frage ich kalt.
Beim Klang meiner Stimme fährt sie zusammen. Vielleicht dachte sie, ich würde noch immer einen Steward und ein rundes Dutzend Kammerdiener beschäftigen. «Euer Gnaden!»
«Die nämliche. Was willst du, Shore?»
Sie verschwindet ganz aus meinem Sichtfeld, so tief knickst sie, und einen Augenblick lang erkenne ich die Komik der Situation, als sie wie ein blasser Mond am Horizont wieder hochkommt. «Ich bin mit Geschenken gekommen, Euer Gnaden», sagt sie klar und deutlich. Dann spricht sie leiser. «Und mit Neuigkeiten. Bitte lasst mich herein, um des Königs willen.»
Mein Zorn flackert auf, weil sie es wagt, ihn zu erwähnen, dann bedenke ich, dass sie wohl glaubt, immer noch in seinen Diensten zu stehen, und dass sie mich immernoch als seine Gemahlin betrachtet. Ich schiebe die Bolzen der Tür zur Seite, und sie schießt verängstigt wie eine Katze herein. Sogleich schlage ich die Tür hinter ihr zu.
«Was fällt dir ein», frage ich sie rundweg, «hierherzukommen? Unaufgefordert?» Sie wagt es nicht,
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