Die Königin der Weißen Rose
Mond, groß und silbrig, der einen Lichtstreifen auf das dunkle Wasser wirft, und ich wähle eine Schnur und nehme sie in die rechte Hand. «Diese hier.»
«Ganz sicher?»
«Ja.»
Sofort zieht sie eine silberne Schere aus ihrer Tasche und schneidet die beiden anderen Schnüre durch. Was auch immer daran hing, wird vom dunklen Wasser mitgerissen.
«Was war das?»
«Das waren Dinge, die nie passieren werden, die Zukunft, die wir nicht kennenlernen werden. Die Kinder, die nicht zur Welt kommen, und die Gelegenheiten, die wir nicht nutzen, das Glück, das wir nicht haben», sagt sie. «Sie sind dahin. Für dich verloren. Schau stattdessen, was du gewählt hast.»
Ich beuge mich über die Palastmauer, um die Schnur einzuholen, und sie kommt tropfend aus dem Wasser. An ihrem Ende hängt ein Silberlöffel, ein wunderschöner, kleiner silberner Löffel für ein Baby, und als ich ihn auffange, sehe ich im Mondlicht, dass eine Krone und der Name «Edward» in ihn graviert ist.
Wir feiern Weihnachten in London als Fest der Versöhnung, als könnte ein Fest aus Warwick einen Freund machen. Ich werde an all die Zeiten erinnert, da der arme König Henry versucht hat, seine Feinde zusammenzubringen, damit sie einander Freundschaft schwören, und ich weiß, dass manche am Hofe Warwick und George als Ehrengäste betrachten und hinter vorgehaltener Hand lachen.
Edward ordnet an, im großen Stil zu feiern, und so nehmen am Vorabend des Dreikönigstages fast zweitausend Edelleute mit uns an der Festtafel Platz, Warwick unter ihnen an prominenter Stelle. Edward und ich tragen die Kronen und sind nach der neuesten Mode in edle Stoffe gekleidet. In diesem Winter trage ich nur Silberweiß und Gold, und es heißt, ich wäre in der Tat die weiße Rose von York.
Edward und ich machen den zweitausend Gästen Geschenke und bezeigen allen unsere Gunst. Warwick ist ein gerngesehener Gast, und wir grüßen einander mit perfekter Höflichkeit. Als mein Mann es mir befiehlt, tanze ich sogar mit meinem Schwager George: reiche ihm die Hand und lächle in sein gutaussehendes, jungenhaftes Gesicht. Wieder fällt mir auf, wie ähnlich er meinem Gatten Edward ist: eine kleinere, zierlichere Version von Edwards blonder Stattlichkeit. Wieder bin ich verblüfft, wie sehr die Menschen ihn vom ersten Augenblick an mögen. Er hat den zwanglosen Charme der Yorks, aber nichts von Edwards Ehre. Aber ich vergesse und vergebe nichts.
Ich begrüße seine Braut Isabel, Warwicks Tochter, mit Freundlichkeit, heiße sie an meinem Hof willkommen und wünsche ihr alles Gute. Sie ist ein armes, dünnes, blasses Mädchen, das recht bestürzt wirkt über die Rolle, die sie nach dem väterlichen Plan zu spielen hat. Jetzt hat sie in die verräterischste Familie Englands eingeheiratet und lebt am Hofe des Königs, den ihr Gatte verraten hat. Sie hungert nach Freundlichkeit, und ich bin schwesterlich und liebevoll zu ihr. Ein Fremder am Hofe, der uns in der gastfreundlichsten Zeit des Jahres besucht, könnte den Eindruck haben, ich hätte sie als Verwandte ins Herz geschlossen. Er würde nicht auf die Idee kommen, dassich einen Vater und einen Bruder verloren habe. Er würde denken, ich hätte überhaupt kein Gedächtnis.
Doch ich vergesse nichts. In meinem Schmuckkästchen liegt ein dunkles Medaillon, in dem ich eine Ecke vom letzten Brief meines Vaters verwahre, und auf diesem Papierfetzen stehen die Namen Richard of Warwick und George of Clarence, geschrieben mit meinem eigenen Blut. Ich vergesse nichts, und eines Tages werden auch sie es wissen.
Warwick, der mächtigste Mann im Königreich nach dem König, bleibt rätselhaft. Er nimmt die ihm erwiesenen Ehren- und Gunstbezeigungen mit eisiger Würde entgegen, als Mann, dem alles zusteht. Sein Komplize George ist wie ein junger Meutehund, springt herum und wedelt mit dem Schwanz. Isabel, Georges Braut, sitzt bei meinen Damen, zwischen meinen Schwestern und meiner Schwägerin Elizabeth, und ich kann nicht umhin zu lächeln, als ich sehe, wie sie den Kopf abwendet von ihrem tanzenden Gatten, oder wie sie zusammenfährt, wenn er zu Ehren des Königs einen Trinkspruch ausbringt. George, blond und pausbäckig, war immer der geliebte Junge der Yorks, und bei diesem Weihnachtsfest benimmt er sich seinem älteren Bruder gegenüber, als wäre ihm nicht nur dieses Mal vergeben worden, sondern als würde ihm immer alles vergeben werden. Er ist das verwöhnte Kind der Familie – er glaubt tatsächlich, er kann nichts falsch
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